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Ansichten eines Klaus - Roman

Ansichten eines Klaus - Roman

Titel: Ansichten eines Klaus - Roman
Autoren: Michael-André Werner
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mittlerweile legendären Bierwerbespot gedreht hatte. Der lief jahrelang in der kurzen Version im Fernsehen und in der langen Version in den Kinos, wo er mehr klettern musste und einmal fast abstürzt wäre. Aber zum Schluss hat es sich dann ja doch noch gelohnt. Es gibt – Bier. Kein Fünf-Gänge-Menü, keinen Sack voll Geld, nicht Ruhm und Ehre, nicht mal ne Tasse Kaffee, nein, Bier, eine Flasche Bier. Die hat wahrscheinlich der Kollege Bergsteiger, der vorher da oben war, vergessen zu trinken, bevor er beim Abstieg abstürzte. Völlig neue Konnotation. Bier und Absturz. Ohnehin erstaunlich, dass die Flasche in dieser Höhe nicht gefroren und geplatzt ist. Aber das ist Geschichte. Der Spot läuft vielleicht noch ab und zu in irgendwelchen Neunziger-Nostalgie-Shows oder als Parodie in einer Sketchsendung. Aber das alles hat er mit knapp unter vierzig geschafft, denn wenn es zwölfe schlägt, feiern wir in Alexanders neununddreißigsten Geburtstag rein. Und wann wird geheiratet? Wann kommen die Kinder? Nein, das fragt hier niemand. Das wäre ja spießig. Aber in den Hinterköpfen spukt es doch herum.
    Nur Petra hat ganz andere Fragen. »Wo ist ’n hier das Klo?«
    Woher soll ich das wissen, ist das meine Wohnung? Ich zucke mit den Schulter, verkneife mir das klassische Immer-der-Nase-nach und rate: »Am besten, du drängelst dich hier quer durch den Raum, dann den laaaaaaaangen Flur entlang, und dann stellst du dich vor die Tür mit der längsten Schlange. Die Tür hat wahrscheinlich keine Klinke, sondern nur einen Schlüssel«, flüstere ich. Altbautoiletten haben fast nie eine Klinke, sondern immer nur ein Kastenschloss mit Schlüssel außen und Riegel innen, und zuhalten kann man sie, wenn überhaupt, nur mit einem extra zu diesem Zweck angebrachten kleinen Haken. Petra nickt und kämpft sich durch die Menge. Ich schaue ihrem kleinen, runden Hintern nach, dann verschwindet sie mit ihm, und zwei dickere, nicht halb so wohlgeformte, drängeln sich in meinen Blick. Ich hol mir noch ein Bier.
    Da das Klo wahrscheinlich nicht nur ein Kastenschloss hat, sondern typischerweise ein langer Schlauch mit Handwaschbecken, Badewanne und Toilettenschüssel ist, und das zweite Bad in dieser Wohnung noch eine Baustelle, werden die Getränke auf dem Balkon gelagert. Da ist es gerade Februar und für Bier genau die richtige Temperatur. An den Bierkästen treffe ich Alexander, der mir zunickt, als würde er mich nicht kennen, undeinen Mann in gestreiftem Hemd und Jeans, den ich nicht kenne.
    »Beck’s?«, fragt der im gestreiften Hemd überrascht, als er eine Flasche aus dem Kasten gezogen und draufgeschaut hat. »Du müsstest doch jetzt Bier auf Lebenszeit von den Brüdern von Königsbräu kriegen.« Er lacht.
    Alexander lächelt, öffnet seine Flasche und reicht mir den Öffner. »Ja, schön wär’s«, sagt er unverbindlich und geht wieder rein.
    »Kalt hier draußen«, sage ich zu dem Träger des gestreiften Hemdes, als ich mich an ihm vorbei ins Wohnzimmer schiebe. Während ich draußen war, scheint noch eine Busladung Gäste angekommen zu sein. Es ist voller geworden.
    Alexander steht vor einem alten, frisch abgeschliffenen Kiefernholzschrank und unterhält sich mit einer jungen Frau. Sie, einen Kopf kleiner, eine dicke, bunte Plastikarmbanduhr an der linken Hand, mit der sie sich, den Arm in die Höhe gestreckt, am Schrank festhält. Fast, dass sie sich an das Möbel anschmiegt wie eine Galeonsfigur an ein Schiff oder ein Atlas, der einen Balkon hält. So steht sie da, weißes T-Shirt, Jeans, Socken, ja, rote Socken, ihre Schuhe werden bei den anderen Schuhen auf dem Haufen im Flur liegen, den Schuhbergen ähnlich, wie wir sie von alten KZ-Schwarzweißfotos kennen. Sie zieht gerade ein Bein nach oben und stützt sich mit der Fußsohle auf dem Knie ab, wahrscheinlichmacht sie Yoga. Oder will zeigen, wie gelenkig sie ist. In der freien Hand hält sie ein Bier, Alexander redet, sie nickt, Alexander lacht, sie kichert. Er tippt sie an die Schulter, sie schaut zu Boden. Alexander lächelt. Jemand drängelt sich an den beiden vorbei, klopft Alexander kurz auf die Schulter, Rotsöckchen blickt zu Alexander hoch, schüttelt den Kopf, ihr Pferdeschwanz wackelt.
    Die Frau kenne ich nicht. Und Alexander bin ich das letzte Mal bei der Abifeier begegnet, sieht man von dem kurzen Aufeinandertreffen eben auf dem Balkon einmal ab. Sein Gesicht ist etwas aufgedunsen, aber das ist vielleicht Tagesform. Sein helles Haar ist dünner geworden
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