Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
allzu viel erwarteten. Aber er hätte es sich nicht träumen lassen, dass er die Gegenwart eines kleinen Mädchens so genießen könnte. Frauen waren ja schon schlimm genug, doch kleine Mädchen waren noch viel schrecklicher. Er konnte es nicht ausstehen, wie sie an ihm vorbeihuschten und ihm versteckte Seitenblicke zuwarfen, so als müssten sie befürchten, dass er sie bei lebendigem Leibe fressen würde. Wohlerzogene kleine Mädchen in Avonlea waren eben so. Aber diese sommersprossige kleine Hexe war ganz anders, und obgleich er bei seiner eher langsamen Denkweise einige Mühe hatte, mit dem Tempo ihrer Gedankensprünge mitzuhalten, merkte er ziemlich schnell, dass ihm das Geplauder der Kleinen eigentlich gut gefiel.
    Also sagte er, scheu wie immer: »Nein, nein, rede nur so viel, wie du willst. Mir macht das nichts aus.«
    »Oh, ich bin ja so froh! Ich weiß jetzt schon: Wir zwei werden uns gut verstehen. Es ist eine große Erleichterung, wenn man reden kann, wann immer man Lust dazu hat, und sich nicht immer sagen lassen muss, dass Kinder nur sprechen sollen, wenn sie etwas gefragt werden. Das habe ich bestimmt schon zehntausendmal gehört. Und oft lachen die Leute mich aus, weil ich angeblich so große, geschwollene Worte benutze. Aber wenn man große Gedanken hat, muss man doch auch große Worte dafür haben, oder was meinen Sie?«
    »Hm, tja . .. das klingt einleuchtend«, sagte Matthew.
    »Mrs Spencer hat mir erzählt, dass Ihre Farm >Green Gables< heißt. Ich habe sie über alles ausgefragt. Und als sie mir sagte, dass sie ganz von Bäumen umstanden sei, war ich glücklicher denn je. Ich liebe Bäume! Beim Waisenhaus gab es überhaupt keine, nur so ein paar mickrige kleine Stämmchen an der Straße. Sie hatten einen weißen Zaun um sich und sahen selbst wie Waisenkinder aus. Immer wenn ich sie ansah, kamen mir fast die Tränen. Dann versuchte ich sie zu trösten: >Ach, ihr armen kleinen Bäumchen! Wenn ihr doch nur in einem großen Wald inmitten lauter anderer Bäume stehen könntet! Dann würden grünes Moos und Glockenblumen um eure Wurzeln wachsen, in euren Zweigen würden Vögel zwitschern und vielleicht sogar ein Bach in eurer Nähe rieseln, In einer solchen Umgebung könntet dann auch ihr fröhlich wachsen, nicht wahr? Hier aber müsst ihr für immer und ewig klein und mickrig bleiben. Ich weiß genau, wie euch zu Mute ist.< Als ich sie heute Morgen zurücklassen musste, war ich richtig traurig. Man fühlt sich den Dingen mit der Zeit verbunden, nicht wahr? Gibt es einen Bach in der Nähe von Green Gables? Ich habe vergessen, Mrs Spencer danach zu fragen.«
    »Ja, es gibt einen, gleich hinter dem Haus.«
    »Himmlisch! Ich habe immer davon geträumt, in der Nähe eines Baches zu wohnen. Aber ich habe nie gedacht, dass es einmal Wirklichkeit werden könnte. Nicht alle Träume werden wahr, so ist es doch, Mr Cuthbert? Wäre es nicht wunderbar, wenn sie immer wahr würden? Aber heute bin ich auch so schon fast glücklich. So richtig glücklich kann ich nie sein, weil... meine Haare ... wie würden Sie diese Farbe nennen?«
    Bei diesen Worten hielt die Kleine einen ihrer langen, glänzenden Zöpfe hoch. Matthew war in der Beurteilung weiblicher Locken nicht gerade erfahren, aber in diesem Fall gab es keinerlei Zweifel.
    »Rot, oder?«
    Mit einem tiefen Seufzer, der allen Kummer ihres jungen Lebens verriet, ließ das Mädchen den Zopf wieder fallen.
    »Ja, meine Haare sind rot«, sagte sie verdrossen. »Jetzt verstehen Sie, warum ich nie vollkommen glücklich sein kann. Kein Mensch mit roten Haaren könnte das. Alles andere macht mir nicht so viel aus. Die Sommersprossen, die grünen Augen, meine hagere Figur. Ich kann mir ja immer vorstellen, ich hätte einen lilienweißen Teint und große veilchenblaue Augen. Sogar Grübchen in den Ellenbogen kann ich mir vorstellen. Nur meine roten Haare, die kann ich nicht wegträumen, sosehr ich es auch versuche. Ich kann mir tausendmal einreden: >Meine Haare sind schwarz, raben schwarz< - ich weiß trotzdem, dass sie rot sind, und darüber komme ich nicht hinweg. In einem Roman habe ich einmal etwas über ein wunderschönes Mädchen gelesen. Natürlich hatte es keine roten Haare - im Gegenteil, >goldene Locken umrahmten seine Alabasterstirn<. Was ist eine Alabasterstirn? Ich konnte es nie herausfinden. Können Sie es mir sagen?«
    »Hm, nein ... leider nicht«, bedauerte Matthew, dem langsam etwas schwindelig wurde. So hatte er sich als Kind gefühlt, wenn er mit einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher