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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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zurück.
    Doch Schärfe war längst nicht mehr Marillas hervorstechendste Eigenschaft. Und so kam es, dass Mrs Lynde am Abend ihrem Thomas erklärte: »Marilla Cuthbert ist richtig milde geworden - jawohl!«
    Am darauf folgenden Abend ging Anne zu dem kleinen Friedhof von Avonlea hinüber, um frische Blumen auf Matthews Grab zu stellen und den schottischen Rosenstrauch zu gießen. Bis zur Abenddämmerung blieb sie dort, um die Ruhe und den Frieden dieses Ortes zu genießen, dem Rauschen der Pappeln und dem Flüstern der Gräser zuzuhören. Die Sonne war schon untergegangen, als sie den Friedhof auf dem kleinen Hügel verließ. Ein frischer Wind wehte über die saftigen Kleewiesen, unter den großen Bäumen leuchtete hier und dort ein heimeliges Licht durch die Zweige. Die Landschaft erschien in sanften, milden Farben, die sich im »See der glitzernden Wasser« widerspiegelten.
    »Liebe Welt«, murmelte Anne. »Du bist wunderschön und ich freue mich in dir zu leben.«
    Auf halbem Weg den Hügel hinunter sah sie Gilbert pfeifend aus dem Tor der Blythe-Farm treten. Das Pfeifen erstarb auf seinen Lippen, als er Anne erblickte. Er zog höflich den Hut und wäre sicherlich schweigend an ihr vorbeigegangen, wenn Anne nicht stehen geblieben wäre und ihm ihre Hand entgegengestreckt hätte.
    »Gilbert«, sprach sie ihn an. »Ich möchte dir dafür danken, dass du meinetwegen auf die Stelle in Avonlea verzichtet hast. Das war sehr nett von dir.. . und ich möchte dir sagen, dass ich es sehr zu schätzen weiß.«
    Gilbert ergriff nur allzu gern die angebotene Hand. »Das ist von Herzen gern geschehen, Anne. Ich freue mich, dass ich dir diesen kleinen Gefallen tun konnte. Wollen wir jetzt Freunde sein? Hast du mir meine alten Sünden verziehen?«
    Anne lachte und versuchte vergebens ihre Hand zurückzuziehen. »Ich habe dir schon an dem Tag verziehen, an dem du mich auf dem See in dein Boot genommen hast - damals wusste ich es nur noch nicht. Was für eine starrköpfige kleine Gans ich doch war! Nun sollst du ruhig alles wissen: Es hat mir seitdem immer Leid getan.«
    »Wir werden die besten Freunde werden«, jubelte Gilbert. »Wir sind dazu geboren, gute Freunde zu sein, Anne — du hast dem Schicksal lange genug ins Handwerk gepfuscht. Ich bin mir sicher, dass wir uns in vieler Hinsicht helfen können. Du willst doch ein Fernstudium anfangen, nicht wahr? - Ich nämlich auch. Komm, ich bringe dich nach Hause.«
    Marilla sah Anne neugierig an, als sie in die Küche trat.
    »Wer war denn der junge Mann, der dich nach Hause gebracht hat, Anne?«
    »Gilbert Blythe«, antwortete Anne und merkte verärgert, dass sie rot wurde. »Ich habe ihn auf dem Weg vom Friedhof getroffen.«
    »Ich wusste gar nicht, dass Gilbert Blythe und du so gute Freunde seid, dass ihr über eine halbe Stunde am Hoftor stehen und euch unterhalten könnt«, bemerkte Marilla mit einem kleinen Lächeln.
    »Bis jetzt waren wir es ja auch nicht, wir waren gute Feinde. Aber jetzt haben wir festgestellt, dass es viel vernünftiger ist, gute Freunde zu werden. - War es wirklich eine halbe Stunde? Es kam mir nur wie ein paar Minuten vor. Aber du weißt ja, Marilla: Wir haben die Gespräche von fünf langen Jahren aufzuholen.«
    Glücklich und zufrieden saß Anne an jenem Abend am offenen Fenster im Ostgiebel von Green Gables. Der Wind, der sanft durch die Zweige der Kirschbäume strich, wehte den Geruch von frischer Minze zu ihr herüber. Über den dunklen Tannen blinkten die Sterne, durch die Zweige konnte sie das Licht von Dianas Fenster schimmern sehen.
    Der Rahmen von Annes Möglichkeiten war enger geworden seit jener Nacht nach ihrer Rückkehr aus der Stadt, als sie ebenfalls hier gesessen hatte. Doch wenn der Weg, der nun vor ihr lag, auch schmal war - sie wusste, dass Blumen an seinem Rand blühten. Die Freuden ernsthafter Arbeit und guter Freundschaft winkten ihr. Nichts konnte Anne ihre angeborene Phantasie, ihre Welt voller Träume streitig machen. Und schließlich war da immer noch die Biegung in der Straße .. .
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