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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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empörte sich Manila. »Wir haben Mrs Spencer doch ausrichten lassen, dass sie uns einen Jungen mitbringen soll.«
    »Ja, aber sie hat das Mädchen mitgebracht, der Stationsvorsteher hat es mir bestätigt. Und da musste ich sie wohl mit nach Hause nehmen. Ich konnte sie ja nicht einfach da sitzen lassen, wer auch immer das verbockt hat.«
    »Na, das ist mir ja eine schöne Geschichte!«, rief Marilla aus. Während dieses Gespräches waren die großen Augen des Kindes ratlos von einem zum anderen gewandert. Es dauerte eine Weile, bis es die ganze Tragweite der Situation begriff. Plötzlich ließ es die alte Reisetasche fallen und rang verzweifelt die Hände.
    »Sie wollen mich nicht!«, jammerte es. »Sie wollen mich nicht haben, weil ich kein Junge bin! Ich hätte es doch ahnen müssen. Mich hat noch nie jemand gewollt. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Ach, was soll ich jetzt nur tun?«
    Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, schlug beide Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu schluchzen an. Marilla und Matthew wechselten einander hilflose Blicke, keiner von ihnen wusste, was er tun oder sagen sollte.
    »Na, na!«, sagte Marilla endlich. »Es gibt keinen Grund, so zu weinen.«
    »Und ob es einen Grund gibt!« Das Kind hob sein tränenüberströmtes Gesicht. »Sie würden schließlich auch weinen, wenn Sie ein Waisenkind wären und dächten, Sie hätten ein Zuhause gefunden, und dann stellt sich plötzlich heraus, dass man Sie nicht behalten will, bloß weil Sie kein junge sind. Das ist die größte Tragödie, die mir in meinem Leben je widerfahren ist!«
    Bei diesen Worten stahl sich unwillkürlich ein kleines Lächeln auf Marillas Gesicht. »Komm, hör jetzt auf zu weinen. Wir werden dich ja nicht gleich heute Abend vor die Tür setzen. Du wirst so lange bei uns bleiben, bis sich die ganze Sache aufgeklärt hat. Wie heißt du eigentlich?«
    Die Kleine zögerte einen Moment. »Können Sie mich bitte Cordelia nennen?«, fragte sie dann.
    »Dich Cordelia nennen? Ist das denn dein Name?«
    »Nein, eigentlich nicht. Aber ich würde so gerne Cordelia heißen. Das klingt so elegant!«
    »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Wenn du nicht Cordelia heißt, wie heißt du dann?«
    »Anne Shirley«, antwortete das Mädchen widerwillig, »aber, bitte, nennen Sie mich doch Cordelia. Es kann Ihnen doch ganz egal sein, wie Sie mich nennen, wenn ich sowieso nur kurze Zeit hier bleiben soll, oder? Und Anne klingt so furchtbar unromantisch.«
    »Schluss mit dem Unsinn!«, erwiderte Marilla ungerührt. »Anne ist ein guter, vernünftiger Name, für den du dich überhaupt nicht zu schämen brauchst.«
    »Ich schäme mich ja auch gar nicht«, erklärte Anne, »Cordelia finde ich bloß viel schöner. Aber wenn Sie mich schon Anne nennen wollen, dann bitte am Schluss mit einem e.«
    »Was macht das für einen Unterschied, ob mit oder ohne e?«, wunderte sich Marilla und wieder spielte ein ungewohnt mildes Lächeln um ihre Lippen.
    »Das ist ein Riesenunterschied! Es sieht tausendmal besser aus. Sehen Sie den Namen denn nicht in Gedanken vor sich auf dem Papier? Ich schon. A-n-n sieht einfach furchtbar aus, aber A-n-n-e, das wirkt richtig nobel. Also, wenn Sie mich mit einem e am Ende nennen wollen, kann ich mich dazu entschließen, auf Cordelia zu verzichten.«
    »Also, gut, Anne mit einem e am Ende: Kannst du uns verraten, wie es zu diesem Missverständnis gekommen ist? Wir haben Mrs Spencer ausrichten lassen, sie soll uns einen jungen mitbringen. Gab es denn keine Jungen im Waisenhaus?«
    »Oh, doch, es gab dort jede Menge Jungen. Aber Mrs Spencer sagte ausdrücklich, dass Sie sich für ein Mädchen von ungefähr elf Jahren entschieden hätten. Und die Schwester meinte, ich käme dafür in Frage. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe! Ich konnte die ganze letzte Nacht vor lauter Freude gar nicht schlafen. Aber...«, sie drehte sich vorwurfsvoll zu Matthew um, »warum haben Sie mir denn nicht gleich am Bahnhof gesagt, dass Sie mich hier nicht haben wollen? Jetzt, wo ich die »Weiße-Blütentraum-Allee< und den »See der glitzernden Wasser< gesehen habe, ist es nur noch schlimmer.«
    »Was um alles in der Welt meint sie damit?«, wandte Marilla sich ratlos an Matthew.
    »Ach, nichts. Wir haben uns auf der Fahrt eben ein bisschen unterhalten«, antwortete Matthew ausweichend. »Ich bringe jetzt am besten erst einmal die Stute in den Stall, Marilla. Wenn
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