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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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aufnehmen wollen.«
    »Aber... ich erwarte kein Mädchen«, antwortete Matthew verblüfft, »ich bin gekommen, um einen kleinen Jungen abzuholen.«
    »Tut mir Leid, mehr Waisenkinder habe ich nicht zu bieten.«
    »Das versteh ich nicht«, wunderte sich Matthew weiter und wünschte, Marilla wäre hier, um die Situation in die Hand zu nehmen.
    »Nun, am besten fragen Sie das Mädchen einmal selbst«, riet ihm der Stationsvorsteher ungerührt. »Die Kleine ist nämlich nicht auf den Mund gefallen. Vielleicht sind den Leuten im Waisenhaus die Jungen gerade ausgegangen.«
    Damit ging der Mann heim zum Kaffeetrinken und ließ den unglücklichen Matthew stehen, der sich nun einer Aufgabe gegenübergestellt sah, die ihm schwerer schien als in einen Löwenkäfig zu steigen: Er musste auf ein Mädchen zugehen - noch dazu auf ein wildfremdes -und es fragen, warum es denn kein Junge sei. Seufzend wandte er sich um und schlurfte über den langen Bahnsteig auf das Kind zu, das ihn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte.
    Es war etwa elf Jahre alt und trug ein sehr kurzes, sehr hässliches Kleid aus gelbgrauem Flanell und dazu einen verblichenen braunen Matrosenhut, unter dem zwei dicke rote Zöpfe herausschauten. Das schmale, blasse Gesicht dieses Mädchens, vor dem Matthew Cuthbert eine solche Heidenangst hatte, war mit Sommersprossen geradezu übersät.
    Dass die großen graugrünen Augen vor Munterkeit und Lebenslust nur so sprühten und der Mund weiche, ausdrucksvolle Lippen besaß, entging Matthew zunächst.
    Aber immerhin wurde ihm die Qual erspart, das Gespräch eröffnen zu müssen. Denn sobald die Kleine erkannt hatte, dass er auf sie zuging, stand sie auf, umfasste mit einer Hand den Griff einer schäbigen alten Reisetasche und streckte ihm die andere Hand entgegen.
    »Sie müssen Mr Matthew Cuthbert sein«, sagte sie mit klarer, heller Stimme. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Ich hatte nämlich schon ein bisschen Angst, dass Sie nicht mehr kommen würden. Da habe ich mir überlegt, dass ich dann auf dem Kirschbaum dort unten die Nacht verbringen würde. Ich hätte überhaupt keine Angst gehabt. Es muss wundervoll sein, im silbernen Mondlicht auf einem blühenden Kirschbaum zu schlafen, finden Sie nicht auch? Man könnte sich vorstellen, man wäre in einer großen Marmorhalle. Und ich war mir ganz sicher: Wenn Sie heute Abend nicht gekommen wären, dann hätten Sie mich spätestens morgen früh abgeholt.«
    Matthew drückte verlegen die schmale kleine Hand des Mädchens und fasste dabei einen inneren Entschluss: Er würde diesem Kind mit den leuchtenden Augen nichts von dem Missverständnis erzählen. Das sollte Marilla übernehmen, in Bright River konnte er die Kleine ja sowieso nicht zurücklassen, also konnten alle Fragen und Erklärungen genauso gut verschoben werden, bis er wieder sicher und geborgen auf Green Gables war.
    »Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte er schüchtern. »Komm, das Pferd steht drüben im Hof. Gib mir deine Tasche.«
    »Oh, die trage ich lieber selber«, antwortete das Kind fröhlich. »Ich habe alles darin, was ich auf dieser Welt besitze, aber schwer ist sie trotzdem nicht. Und wenn man sie nicht richtig anfasst, geht der Handgriff ab. Es ist eine uralte Reisetasche, wissen Sie. Ach, ich bin so froh, dass Sie gekommen sind, auch wenn es sicherlich schön gewesen wäre, in einem blühenden Kirschbaum zu übernachten. Wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns, nicht wahr? Acht Meilen, sagte Mrs Spencer. Ich freue mich schon, ich reise nämlich für mein Leben gerne. Und es kommt mir fast wie ein Wunder vor, dass ich bei Ihnen leben und ganz zu Ihnen gehören darf. Ich habe noch nie irgendwo dazugehört - jedenfalls nicht richtig. Aber im Waisenhaus war es bisher am schlimmsten. Ich war zwar nur vier Monate dort, aber es war schon lange genug. Ich nehme an, Sie waren noch nie in einem Waisenhaus, deshalb können Sie sich auch nicht vorstellen, wie das ist. Es ist schlimmer als alles, was Sie sich vorstellen können. Dabei waren die Leute dort gut zu uns. Aber es gibt so wenig Raum für Phantasie - abgesehen vielleicht von den anderen Waisenkindern. Ja, man konnte sich vorstellen, dass das Mädchen neben einem in Wirklichkeit die Tochter eines echten Grafen ist, das als Säugling von einer grausamen Amme entführt wurde, die dann starb, bevor sie ein Geständnis ablegen konnte. Nachts bin ich oft wach geblieben und habe mir lauter solche Sachen
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