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Animus

Animus

Titel: Animus
Autoren: Marina Heib
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sind. Erst wenn du das akzeptierst, kannst du anfangen, das alles als Instrument zu nutzen. Erst dann kannst du vernünftig arbeiten. Wir sollten noch einmal die kompletten Differenzierungen der emotionalen und biologischen Reaktionen durchgehen.«
    »Bloß nicht, nicht jetzt«, stöhnte Becky auf. »Ich bin fix und fertig.«
    »Okay, wir setzen uns morgen daran. Und übermorgen. Und überübermorgen … Jetzt ruh dich aus.«
    Becky schien jedoch schon wieder recht munter. »Wo sind Jessica und Sarah?«
    »Ich fürchte, bei Gustafsson.«
    »Wie schön für den Dänen. Darf er mal wieder abspritzen?«, stieß sie sarkastisch hervor. »Ich geh rüber, hoffentlich sind sie mit ihrem Schweinkram fertig, und wir können was starten.« Becky sprang fröhlich auf und lief aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Man konnte kaum glauben, dass sie sich vor einer halben Stunde noch die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.
    Ich ging auf mein Zimmer. Beckys Abgang ohne ein Wort des Dankes war nicht böse gemeint, sondern ein Zeichen für ihre perfekten Verdrängungsmechanismen. Sie verdrängte ihre Vergangenheit, sie wollte sich nicht mit der Gegenwart auseinandersetzen und schon gar nichts über die ihr bestimmte Zukunft wissen. Genau diese Verweigerungshaltung machte ihr das Arbeiten unmöglich.
    Selbst Esther, unsere Lagerpsychologin, hatte diesen offensichtlichen Umstand erkannt. Ich hielt Esther für dämlich und verspürte wie die anderen Frauen im Lager keine Lust, mich mit der Seelenklempnerin auseinanderzusetzen. Doch eine Sitzung pro Woche war Pflicht. Manchmal machten wir uns einen Spaß daraus, Träume und Neurosen vorher untereinander abzusprechen, und wetteten auf die Plattitüden, mit denen die Psychologin uns zu therapieren suchte. Die Trefferquote war hoch. Am meisten nervte Esther jedoch mit ihrem Entschluss, uns Ratten als »ganz normale Frauen« zu behandeln. Folgen davon waren eine stets verkrampfte, sich der Lächerlichkeit preisgebende Therapeutin und Patientinnen, die es amüsant fanden, sich in den Sitzungen als Monster und Mutanten aufzuführen. Die Stunden auf Esthers Couch waren sinnlos. Lediglich Becky ging seit einiger Zeit jede Woche zweimal hin. Allerdings nur, weil sie mit Ann gewettet hatte, dass sie die verklemmte Psychologin ins Bett zerren würde. Sie provozierte Esther, wo sie nur konnte. Einmal hatte sie auf der Couch zu masturbieren begonnen, wobei Esther puterrot anlief und sich nur mühsam beherrschen konnte, ihren distanzierten Psychologentonfall beizubehalten. Als Becky nach dieser Sitzung ins Wohnzimmer kam und uns Esthers schale Einwürfe wie »Warum tust du das? Fühlst du dich als Lesbe von mir nicht akzeptiert?« zum Besten gab, war die Stimmung so heiter wie schon lange nicht mehr.
    Dennoch – dass wir bei Schmelzer nicht um eine andere Psychologin baten, lag schlichtweg daran, dass die studierten Schmeißfliegen, die an unserer Seele schmarotzten, uns allesamt gestohlen bleiben konnten. Jede einzelne der im Lager anwesenden Ratten hatte ihre einschlägigen Erfahrungen mit Sozialarbeitern, Gutachtern und Therapeuten schon im Knast gemacht. Das genügte uns für den Rest des Lebens.
    Ich legte mich aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mit Isabel, der anderen Sechs, war ich die Dienstälteste im Lager und deshalb für die Ausbildung der unteren Stufen mitverantwortlich. Die letzte Schulung durch Ratten höherer Grade war schon lange her. Ich musste an Lucy und Katya denken, von denen ich ausgebildet worden war. Am besten würde ich mich mit den beiden wegen Becky in Verbindung setzen. Sie wussten bestimmt Rat. Ich würde Schmelzer bei seinem nächsten Besuch eine Nachricht für Lucy mitgeben. Auf Schmelzer konnte man sich verlassen. Leider würde er es vermutlich nicht mehr rechtzeitig für mich schaffen, die Freistellung der Ratten aufs sechste Jahr runterzudrücken. Aber nächstes Jahr! Nächstes Jahr würde ich freigestellt werden, konnte das Lager ohne Schatten verlassen, mir eine Wohnung suchen und müsste nur noch gelegentliche Routineüberprüfungen über mich ergehen lassen.
    Lucy hatte mir erzählt, dass diese Checks kein Problem waren. Ab Stufe acht war man sogar für solche minimalen Störungen sensibilisiert. Ich war gespannt, in welche Stadt man mich beordern würde. Hoffentlich New York. Ich würde einkaufen gehen können, ins Kino, ins Restaurant, in die Disco, in den Zoo – wohin ich nur wollte. In eine Bar vielleicht, bummeln oder im Park
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