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Animus

Animus

Titel: Animus
Autoren: Marina Heib
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auf einer feuchten Wiese liegen. Essen kochen. Besuch empfangen. In einem großen Doppelbett zwischen kühlen Laken schlafen. Im Regen spazieren gehen. Wolken sehen, ja Wolken, vielleicht im Winter sogar Schnee. Die Vorstellung eines grauen, mit Regen- oder Schneewolken verhangenen Himmels brachte mich zum Lächeln. Dieser permanente Sonnenschein, dieser ständig blaue, endlose Horizont konnte einen wirklich deprimieren. Früher hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die Sonne mir jemals auf den Wecker gehen würde. Ein Urlaub am Meer mit zwei Wochen satter UV-Strahlung, am besten auf Hawaii, war das Größte für mich gewesen. Faul am Strand herumliegen und die salzwassernassen Zehen in den Sand graben. Wenn damals nicht diese Scheiße bei dem Überfall passiert wäre, mit dem ich den Rest meines Studiums finanzieren wollte, dann wäre ich womöglich nach Hawaii gezogen. Hätte mich von meinem Macker getrennt – er war eh bloß ein verdammter Dreckshaufen gewesen – und mir einen Job als Hotelmanagerin gesucht. Jetzt war alles anders. Jetzt hatte ich die Nase voll von Sand und Sonne. Jetzt träumte ich von Regen in New York. Den Job allerdings konnte ich mir nicht mehr aussuchen. Vielleicht blieb ich ja mit Isabel zusammen, und wir konnten uns zusammen eine Wohnung nehmen. Wie Lucy und Katya. Denen ging’s doch verdammt gut in Washington.

4. Regennacht
    Lucy, 43, Sensor Stufe 10
    Mir ging es elend. Ich stand am Fenster unserer Altbauwohnung im Washingtoner Stadtteil Burleith und blickte auf den Augustregen. Dicke Tropfen schlugen an die Scheibe, verharrten kurz und liefen in Schlieren nach unten. Ich konzentrierte mich auf die Monotonie des trommelnden Geräuschs, mit dem der Regen gegen das Glas prasselte, betrachtete die Tropfen und ließ die Stadt auf der anderen Seite der Scheibe in der Unschärfe. Der Anblick von Washington, den ich oft, vornehmlich nachts, von unserem hoch gelegenen Apartment genoss, interessierte mich nicht. Mir war übel, schon zum dritten Mal in dieser Woche. Ich legte die rechte Hand flach auf die obere Bauchdecke und atmete tief und ruhig ein und aus. Die Übelkeit war nicht sonderlich heftig, aber umso besorgniserregender, als ich den Grund dafür nicht kannte. Das Gefühl hingegen war mir vertraut. Es war genau die Art von Unwohlsein, die einen leichten Alarm, eine minderschwere oder noch nicht allzu nahe Bedrohung kennzeichnete. Doch ich hatte diese Woche noch keinen einzigen Job gemacht. Außerdem war ich eine Zehn. Nach zehn Jahren Erfahrung kann eine Ratte sowohl ihre biologischen als auch psychischen Reaktionen so gut kontrollieren, dass ein Alarm, egal, welchen Ausmaßes, keine langen Nachwirkungen mehr zeigt. Seit drei Jahren bekam ich kein C15 mehr injiziert, zumindest mein hormoneller Zustand war stabil. Es musste also einen anderen Grund für diese Übelkeit geben.
    Die Nacht brach an. Je dunkler es draußen wurde, desto deutlicher spiegelte ich mich in der Fensterscheibe. Der Regen auf der Außenseite des Glases wirkte wie ein Weichzeichner, der meine herben Gesichtszüge scheinbar entspannte. Ich legte mich auf den Diwan aus rotem Saffianleder, den ich in den Neunzigern einem alten Russen abgekauft hatte. Die Wohnung, die ich mit Katya teilte, war üppig, wenn nicht überladen ausgestattet. Nicht die kleinste freie Ecke, keine Spur von Designerartefakten. In Katyas und meinem Stileklektizismus drückte sich eine nostalgische Sehnsucht nach dem vergangenen, von uns in seiner Vielfältigkeit der Ereignisse und Unterschiedlichkeit der Menschen glorifizierten Jahrhundert aus. Da gab es mehr Bücher im Regal als Blu-Rays, mehr Holz als Glas und Chrom, mehr Kissen als nötig, mehr kreatives Durcheinander als klare Überschaubarkeit. Sicher hatte die jahrelange Entbehrung jeglichen Überflusses im Gefängnis und im Ausbildungslager wesentlich zu unserem wohnlichen Chaos beigetragen.
    Wehrlos gegen meine Melancholie, ließ ich mich in die Kissen sinken. Das Gewicht meiner düsteren Gedanken drückte mich nieder: Alles hatte ich verloren. Verloren, verschenkt, verspielt, verpfuscht, vermasselt. Dabei hatte ich einen guten Start ins Leben gehabt. Ich konnte niemandem einen Vorwurf machen. Nicht meinen Eltern, nicht den Zeiten, der Gesellschaft, den Männern im Allgemeinen oder meinem Exehemann im Speziellen. Ich allein hatte es versaut. Aus Egoismus, Arroganz, aus Ekel vor mir selbst und aus purer, widersinniger Lust, für diesen Ekel andere büßen zu lassen. Und dann doch
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