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Animus

Animus

Titel: Animus
Autoren: Marina Heib
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mich selbst am meisten. Ja, ich hatte gebüßt, tat es immer noch und war tief drinnen verdammt stolz auf die Demut, mit der ich mich in mein selbst verschuldetes Schicksal fand. Jedes Mal, wenn ich darüber nachdachte, fand ich mich zum Kotzen. Die Welt draußen fand ich sowieso zum Kotzen.
    Gelegentlich versuchte ich, in der Öffentlichkeit mit irgendeinem Passanten aus Langeweile, Neugier oder sonst einer menschlichen Regung ein Gespräch anzuknüpfen. Immer das Gleiche. Ich war schockiert von dem vorherrschenden Desinteresse. Außer dem gestrigen, heutigen oder morgigen TV-Programm, Computerspielen und Designerdrogen schien die Leute nichts zu interessieren. Dennoch ging die Volksverblödungsstrategie der Regierung nicht vollständig auf. Seit der Regierungsübernahme des ultrarechten Flügels der Republikaner und dem darauffolgenden großen Nahostkrieg war der zivile Widerstand durch die verschiedensten Formen von Rückzug, Verweigerung und Terrorismus immer stärker angestiegen. Anscheinend fühlte sich jeder mit nur einem Funken Verstand dazu berufen, die Welt zu retten. Oder zu zerstören. Aus dem einen oder anderen Grund. Die einzige Gemeinsamkeit der vielen aktiven Splittergruppen bestand darin, dass sie alle immer radikaler wurden. Die einen wurden radikal gewalttätig, während die anderen zu radikaler Friedfertigkeit aufriefen. Die einen verlangten radikalere Gesetze, die anderen die absolute und total radikale Anarchie. Radikale Abstinenzler jeglicher Couleur standen radikalen Hedonisten und noch radikaleren Fetischisten gegenüber. Die Einschaltquoten der News-Shows stiegen und stiegen: Blutbäder waren spannender als Castingshows. Es herrschte eine Art hirnlose Lethargie in der Bevölkerung. Viel mehr als diese bitteren Betrachtungen konnte ich dem politischen Tagesgeschehen schon lange nicht mehr abgewinnen. Manchmal streifte mich ein Hauch von Bewunderung für unermüdliche Menschenrechtler und unbeugsame Umweltschützer. Gelegentlich fühlte ich Neid, wenn ich Reportagen über harmonische Hippiekommunen in der Abgeschiedenheit der kanadischen Wildnis las. Aber ich fand keinen Glauben mehr. Weder an die Humanität des Menschen noch an die Geborgenheit in der Familie, noch an irgendeine höhere Ordnung. Ich stand mit leeren Händen und ohne Licht und Wasser außerhalb von Hoffnung und Heilslehren in meiner steinigen Wüste. Tastete mich mehr oder weniger klaglos durch meine endlose Nacht.
    Die Haustür wurde aufgeschlossen, und Katyas Stimme ertönte vom Flur: »Hey, Lucy, ich bin’s! Was machst du?« Katya zog ihre Jacke aus und verstaute sie in der Garderobe.
    »Ich finde alles zum Kotzen«, rief ich zurück.
    Katya trat lächelnd ins Wohnzimmer und gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie sah frisch aus, roch frisch. Regentropfen perlten noch durch ihre dunklen, langen Haare, ihre Augen blitzten vor Vergnügen. Sie strahlte eine unverschämt gute Laune aus.
    »Dein Lover hat’s dir wohl richtig besorgt?«, fragte ich, dankbar für die Ablenkung von meiner Grübelei.
    »Dreimal! Willst du einen Tee? Du solltest dir auch einen zulegen, dann guckst du nicht so leidend«, führte Katya das Geplänkel fort, während sie in die Küche ging und mit Geschirr zu klappern begann.
    »Mach mir ein Sandwich, bring mir einen Wodka. Und erzähl!«
    »Kommt sofort, eine Sekunde.«
    Ich setzte mich auf, zog die Beine an und schlang eine Decke um mich. Ich freute mich, dass Katya aufgetaucht war. Sie schien vor Energie zu schäumen. Ich wollte ein wenig davon abzapfen. Schließlich war es oft genug umgekehrt. Katya war keine Frohnatur. Sie neigte zur Melancholie, ja zur Schwermut. Nach Katyas Überzeugung war dieser Wesenszug allerdings keine Folge ihrer jüngeren Vergangenheit, die sie zum größten Teil mit mir im Lager und dann in New York und Washington verbracht hatte, sondern ein altes ethnisches Erbe, auf das sie mit Zufriedenheit blickte. Katya stammte aus einer adligen litauischen Familie, die in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert war. In Litauen gehörten nach Katyas Angaben Melancholie und eine gewisse Schwermütigkeit unbedingt zum Volkscharakter.
    Mir gefiel diese in alten Zeiten wurzelnde Vorstellung. Ich mag alles, was alt ist. Filme von John Huston, Songs von Tom Waits oder Bilder von Edward Hopper. Katya liebte alles, was alt und zudem europäisch war. Vor allem wenn es mit einem B anfing: Beethoven und Brahms, Baudelaire und Bulgakow, Butterspätzle und Bier.
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