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Animal Tropical

Animal Tropical

Titel: Animal Tropical
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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hochkommst.«
    »Ist gut.«
    Ich ging die Treppe hinunter. Zig Leute standen schwatzend auf der Straße. Das Gebäude von gegenüber war dabei, in sich zusammenzustürzen. Während des Sturms waren große Brocken heruntergefallen. Die Polizei hatte die Straße für den Verkehr gesperrt und die drei Familien evakuiert: eine sechs-, eine vier- und eine achtzehnköpfige. Letztere waren Schwarze. Hier im Viertel nannte man sie »Los Muchos« – die Vielen. Ein Architekt befragte sie und machte sich Notizen. Die Feuerwehrleute hatten nichts zu tun, gingen umher, schwatzten, lachten, einer von ihnen stand etwas abseits mit einer kleinen Mulattin; sie sprachen leise miteinander und waren drauf und dran, einander zu küssen und zu befummeln, hier vor allen Leuten. Mit jeder Minute wurden sie geiler. Alle Nachbarn tratschten: »Wo wollen sie die unterbringen? Es heißt, alle Unterkünfte sind belegt. Los Muchos sind dumm dran, denn die passen nirgends rein.«
    Windböen, Nieselregen. Das dreistöckige Gebäude stand auch an der Ecke San Lázaro und Colón. Salpeter vom Meer und Wind sorgten nach und nach für Erosion. In der Mauer waren große Löcher. Seit mindestens dreißig Jahren befand es sich in diesem Zustand. Aber es brach nicht mit einem Schlag zusammen, sondern stückchenweise. Die Polizei stellte Sperren auf, und in der Sperrzone fielen Schutt und Ziegel herab. Keiner wusste, was geschehen würde. Es konnte ganz plötzlich zusammenkrachen. Die Älteste von Los Muchos, ungefähr Mitte sechzig, war wie immer betrunken oder high von Marihuana. In kleinen Schritten torkelte sie ziellos umher und kicherte in sich hinein. Der Architekt und die Feuerwehrleute liefen hin und her, und nichts geschah. Alle sahen einander an. Die Alte murmelte vor sich hin: »Ich bin mal gespannt, was sie mit uns machen werden. Wirst schon sehen, wir bleiben auf der Straße sitzen. Und das bei der Kälte. Wirst schon sehen, das wird genau wie damals unter Machado, als wir im Eingang wohnten, Ecke Monte und Reina. Im Eingang. Wirst schon sehen.«
    Gloria kam herunter, trat auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: »Lass diese Hungerleider, die gehen dich nichts an, komm hoch und hol dir die Zigarren. Minerva wartet auf dich und muss bald los.«
    »He, was soll das? Ich geh hoch, wenn’s mich in den Eiern juckt.«
    »He, Schätzchen, sprich nicht so mit mir. Ich hol dir Rum. Geh hoch und bleib hier nicht stehen. Diese Leute hier haben alle Läuse, die sie dir nur anhängen werden.«
    »Mir? Wo?«
    »Hahaha.«
    Der Aufzug war kaputt. Ich ging wieder hoch. Sieben Stockwerke, wie ein braver kleiner Mann. Ich klingelte an Glorias Wohnung. Minerva öffnete mir und hauchte fast unhörbar: »Ach, Sie sind’s. Kommen Sie rein. Gloria muss gleich kommen.«
    Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Zwei große Lehnsessel, ein Sofa und ein russischer Schwarzweißfernseher. Alles heruntergekommen, schäbig. Von den schmutzigen Wänden bröckelte der Putz. An einem fliegenverkrusteten Kabel baumelte eine Glühbirne. Eine alte Konsole hing ziemlich hoch an der Wand. Keine Ahnung, warum sie so hoch angebracht war. Vielleicht hing sie schon seit fünfzig Jahren da. Zur Zierde standen zwei leere deutsche Bierdosen darauf, ein kleiner Druck der Virgen de la Mercedes und eine zerknitterte Ansichtskarte von einem italienischen Adriastrand. Lumpenkultur.
    Unglaublicherweise war die Wohnung still, niemand da. Nur Minerva. Sie setzte sich mir gegenüber. Sie sieht aus wie Glorias Zwillingsschwester, dabei ist sie ganz das Gegenteil. Gloria erzählte mir eines Tages: »Minerva? Sie ist das ergebenste Geschöpf der Welt. Mit dreizehn ging sie mit dem weg, der sie entehrte. Verließ die Schule und widmete sich ganz ihrem Mann und dem Haushalt. Sie hat drei Kinder und sieht die Sonne durch den Arsch ihres Mannes.«
    Jetzt trug sie einen fast durchsichtigen weißen Kittel. Sehr schlank mit indianischer Haut, schön gebräunt, und schwarzem Haar. Ohne Büstenhalter. Die Brüste klein, die Brustwarzen tiefschwarz. Sie wirkten köstlich. Und sie stellte sie mit jugendlicher Unschuld zur Schau. Sie war umfangen von einem Glorienschein subtiler, zarter Erotik, dem Ausdruck einer Jungfrau kurz vor dem Aufstieg gen Himmel, ehe sie in den Wolken verschwindet. Doch ohne Trompeten und ohne Lichter. Eine Jungfrau aus dem Kloster, in Stille und Dunkelheit.
    Sie hatte mir nichts zu sagen. Ich ihr auch nicht. Ich sah sie direkt an, und sie senkte den Blick. Die typische verheiratete Frau,
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