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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition)
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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gemacht, einem Abenteurer, der noch keine Abenteuer erlebt hatte, wie ich wohl wusste, aber mir war klar, warum nicht: Ihm fehlte der Gefährte. Doch der wuchs ja gerade heran, der war letztes Jahr im Grunewald acht gewesen, jetzt war er schon neun, bald würde er zehn sein, und zehn war schon ganz schön alt, alt genug für die ersten Abenteuer. So ging ich, der Gefährte, neben meinem Vater her und lauschte seinen Erzählungen von unseren kommenden Reisen. Sie führten uns in die Berge, hoch hinauf, in den Schnee, in die gnadenlose Kälte, wo man nur mit speziellen Schlafsäcken und Zelten überleben konnte; führten uns in die Wildnis, wo wir tagelang keinen Menschen sahen, nur Büffel, und manchmal schossen wir einen, wir waren gute Schützen, und grillten abends am Lagerfeuer eine Büffellende; führten uns in Schluchten mit weißen Wassern, wo wir unser Kanu geschickt durch die Stromschnellen lenkten. Ich lauschte atemlos, das hier war besser als die Geschichten von Lederstrumpf und von Robinson Crusoe, die ich mir in der Reinickendorfer Bücherei auslieh, noch in Kinderfassungen, die ich wieder und wieder las, bis das Rückgabedatum überschritten war. Ein Leben wie das von Lederstrumpf war mir möglich, so ähnlich jedenfalls, ohne Indianer, aber abenteuerlich.
    Ich hatte eine glückliche Kindheit, wirklich, das einzige Problem waren die Schießübungen. Meine Mutter verprügelte mich manchmal mit Kleiderbügeln aus Teakholz, aber das waren damals die üblichen Kosten für einen Jungen, der Wert auf eine gewisse Ungezogenheit legte und sich nicht scheute, eine halbwegs mütterliche Unterschrift unter die rote Fünf einer Klassenarbeit zu setzen. Gesehen am 14. April 1972, Elisabeth Tiefenthaler. Ich war gut im Fälschen, aber hin und wieder wurde ich doch erwischt, und dann kam das Teakholz zum Einsatz, unter anderem. Mein Vater schlug mich übrigens nie, das tat nur meine Mutter. Ich hielt das nicht für verwerflich, alle meine Freunde wurden regelmäßig geprügelt, es war halt so. Erst später, mit siebzehn oder achtzehn, als ich große Kämpfe mit meiner Mutter austrug, habe ich ihr die Schläge übelgenommen und vorgeworfen. Aber das war eine taktische Sache, ich wusste, dass ich meine Mutter, die diese Attacken inzwischen bereute, damit in eine ungünstige Position manövrieren konnte, so wurden die Schmerzen von damals zu einem Vorteil für mich in unseren Diskussionsschlachten. Man muss nicht stolz darauf sein. Ich selbst habe meine Kinder nie geschlagen, war manchmal kurz davor, aber es ist nicht passiert.
    Ich glaube, es war im September 1972, als ich meinem Vater an einem Samstagmorgen sagte, dass ich nicht mitkommen würde zum Schießplatz. Ich hatte mich lange nicht getraut, aber nun rückte mein zehnter Geburtstag näher, und ich musste damit rechnen, eine Pistole geschenkt zu bekommen, spätestens zu Weihnachten. Dann käme ich kaum noch raus aus dieser Sache. Was meinst du, was so eine Pistole kostet, hätte mein Vater sagen können, und für ein Kind, das mit Geldnöten aufgewachsen ist, war das ein schwerwiegendes Argument. Ich dachte lange, dass diese Geldnöte damit zu tun haben, dass ein Autoverkäufer, obwohl Zauberer, wenig verdient. Reich wird man tatsächlich nicht, das Grundgehalt liegt niedrig, aber mit den Provisionen für Verkäufe ist ein gutes Auskommen möglich. Unser Problem war, dass mein Vater ständig neue Waffen kaufte, Pistolen, Revolver und Gewehre für die Jagd. Er hat uns nie gesagt, wie viele Waffen er hatte, nicht einmal meine Mutter wusste das genau. Sie schätzte, dass es in den achtziger Jahren mindestens dreißig waren. Wir konnten, weil wir so wenig Geld hatten, nicht jedes Jahr in Urlaub fahren, und ich erinnere mich an die Ferienwochen, wenn ich mit dem Fahrrad den Foxweg entlangfuhr, die Quäkerstraße, die Otisstraße, bis zum Kurt-Schumacher-Damm, auf der verzweifelten Suche nach einem Jungen, der nicht hatte verreisen können, wie ich. Dies gehört zu den wirklich wenigen Dingen, die ich meinem Vater nachtrage. Er hätte mit uns häufiger an die See fahren müssen, nach Noordwijk oder nach Amrum, wo wir einmal auf Klassenfahrt waren und ich die großen, weißen Dünen hinunterrutschte. Zehn, fünfzehn Waffen wären genug gewesen, selbst für einen Mann wie ihn, der Waffen nicht nur gemocht, sondern gebraucht hat. Aber er hat eingesehen, und das spricht wiederum für ihn, dass sein ältester Sohn kein Schütze sein wollte. Er fragte mich, warum ich ihn
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