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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition)
Autoren: Wolfgang Ehmer
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Schrunden sofort das Gefühl eines sicheren Haltes vermittelte. Endlich waren auch diese Arbeiten abgeschlossen und das Haus war jetzt vollständig und fertig und konnte von seinen Bewohnern abgelebt werden.
    Er stieg langsam die Treppen zum zweiten Stock hoch und blieb auf jedem Treppenabsatz stehen, um zu lauschen und zu schnuppern. Im Hochparterre roch es eindeutig bei dem alten Ehepaar Hellwig nach Pisse und Christian vermied es, laut aufzutreten, nachdem ihm schon zweimal die am Stock gehende Frau Hellwig aufgelauert hatte, ihn unter einem Vorwand in den Flur gezogen und versucht hatte, seinen Penis zu befummeln. Er hatte einen regelrechten Ekel verspürt vor dem penetranten Körpergeruch der ungepflegten alten Frau, deren Ausdünstungen durch die geschlossene Flurtür nach außen drangen, aber merkwürdigerweise war er nicht empört gewesen. Aus der Wohnung der Schmitts drang Kindergeschrei.
    Im ersten Stock war es ganz still, die Jakobis hörte man niemals, sie lebten ganz unauffällig und waren immer freundlich. Frau Adler lebte in der mittleren, kleinen Wohnung allein, ihr Mann sei im Krieg geblieben, wie sie sagte. Sie war hübsch und um die dreißig und Christian beobachtete sie genau, immer auf der Suche nach einer kleinen Geste oder Aufforderung, die ihr neutrales, fast desinteressiertes Verhalten ihm gegenüber relativierte. Sie besetzte jedenfalls seine Fantasie, wenn er sich beim Onanieren in ihren nackten, etwas fülligen Körper wühlte. Aber sie blieb distanziert. Im zweiten Stock angekommen, zögerte er kurz, atmete einmal tief durch und drückte dann auf den Klingelknopf an der linken Tür. Er hatte seinen Schlüssel vergessen.
    Es wurde Mitte November und Christian stand wieder auf seinem Beobachtungsposten. Heute würde er es nicht lange aushalten. Ein feiner Nieselregen, der wabernd in der Luft stand, verschleierte die Sicht und tauchte das Land in eine weichgezeichnete, graue Schemenhaftigkeit. Malskats Haus lag hinter dem Grau, still und einsam. Alle Fenster waren geschlossen, die Scheiben glänzten blind. Es war ein unmögliches Vorhaben, dem Christian sich hier aussetzte, allein und ohne eine blasse Ahnung dessen, was er suchte, oder besser, er ahnte etwas, was noch nicht aus den tieferen Schichten seines Bewusstseins nach oben drang, was ihn aber vorwärtstrieb, an diesen Ort, in diese Stille. Er probierte aus, sich in eine Lage zu versetzen, die durch nichts anderes definiert war als durch einen Ort und eine Vermutung. Und natürlich durch die ihr innewohnenden Möglichkeiten. Nichts war geplant, er hatte sich keine Strategie zurechtgelegt, wie er dem Maler begegnen könnte, dem er nachspürte, noch weniger wusste er, wie er sich ihm gegenüber erklären sollte.
    Er war von dem Foto des Malers fasziniert gewesen, als er am ersten September in den Lübecker Nachrichten über die vorzeitige Entlassung Malskats gelesen hatte. Ein Lächeln, ein wenig ironisch, ein wenig verschlossen, umspielt den Mund, eine Zigarette zwischen dem gestreckten Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, fast abgebrannt, der Rauch in Kringeln nach oben steigend, mit der er eine Tasse mit Goldrand zum Mund führt. Eine Haarsträhne, die ins Gesicht fällt. Der Text spricht von vorzeitiger Entlassung nach der Hälfte der zu verbüßenden Strafe von achtzehn Monaten wegen „fragwürdiger Renovierungsarbeiten“ in der Marienkirche zu Lübeck, besser bekannt als „Lübecker Bilderfälscherprozess“, bewirkt durch den positiven Entscheid des schleswig-holsteinischen Justizministers Dr. Lewerenz.
    Ein Bilderfälscher auf einer Insel im Deepenmoor. Bis zu diesem Tag wusste Christian nicht viel über den Bilderfälscherprozess; er war, als die Bilder der wiederentdeckten mittelalterlichen Fresken in der Marienkirche Gegenstand weltweiten Interesses wurden, zu jung gewesen. Eine eher beiläufige Bemerkung seines Vaters an dem Tag, als Malskat entlassen wurde, hatte ihn hellhörig werden lassen.
    „Der wohnt doch jetzt auf dieser Insel im Deepenmoor“, hatte sein Vater den Zeitungsartikel kommentiert. „Der verkriecht sich wohl. Warum sie den so schnell wieder rausgelassen haben? War bestimmt der Mischpoche in Lübeck zu peinlich, ausgerechnet auf einen Fälscher reingefallen zu sein. Vielleicht wusste der auch zu viel.“
    Damit war das Thema für den Vater beendet gewesen, während Christian in diesem Augenblick schlagartig die Idee überfiel, die Insel in Augenschein zu nehmen. Plötzlich war es Rock ’n’ Roll.
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