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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman
Autoren: Neal Stephenson
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jeweils drei aus Sopran, Alt, Tenor, Bariton und Bass – marschierten hinter dem Schirm der Unarier hervor. Sie waren an der Reihe, den Lied- und Sprechgesang anzuleiten, was vermutlich hieß, dass wir uns auf eine schwache Vorstellung gefasst machen mussten, auch wenn sie fast ein Jahr Zeit zum Proben gehabt hatten.
    Der Hierarch sprach die einleitenden Autworte und betätigte dann den Hebel, der die Provenebewegung auslöste.
    Wie die Uhr demjenigen sagen würde, der sie zu lesen verstünde, befanden wir uns noch zwei Tage lang in der Ordinalzeit. Das heißt, dass weder ein besonderes Fest noch ein Feiertag begangen wurde und die Liturgie somit keinem speziellen Thema folgte. Stattdessen beschränkte sie sich auf eine langsame, punktuelle Zusammenfassung unserer Geschichte, die uns daran erinnerte, wie wir all das herausgefunden hatten, was wir wussten. Während der ersten Hälfte des Jahres befassten wir uns mit allem, was vor der Rekonstitution gelegen hatte. Von da aus arbeiteten wir uns dann weiter vor. An diesem Tag hatte die Liturgie etwas mit Entwicklungen in finiten Gruppentheoriken zu tun, die ungefähr dreizehnhundert Jahre zuvor stattgefunden und dazu geführt hatten, dass ihr Urheber, Saunt Bly, von seinem Regelwart verstoßen wurde und den Rest seiner Tage, umgeben von Dards, die ihn als Gott verehrten, auf der Spitze eines Inselberges zubrachte. Er inspirierte sie sogar dazu, den Konsum des Frohkrauts aufzugeben, worauf sie mürrisch wurden, ihn töteten und in der irrigen Annahme, das sei der Ort seines Denkens,
seine Leber aßen. Diejenigen meiner Leser, die in einem Konzent leben, mögen die Chronik konsultieren, um mehr über Saunt Bly zu erfahren. Die anderen müssen wissen, dass wir so viele Geschichten dieser Art haben, dass man sein ganzes Leben lang jeden Tag der Provene beiwohnen kann, ohne zwei Mal dieselbe zu hören.
    Die vier Pfeiler des Praesidiums habe ich bereits erwähnt. Genau in der Mitte, auf der Mittelachse des ganzen Mynsters, hing eine Kette mit einem Gewicht am Ende. Sie war so hoch oben in dem säulenartigen Raum über uns befestigt, dass ihre oberen Abschnitte sich in Staub und Halbdunkel verloren.
    Das Gewicht war ein Klümpchen aus grauem Metall, das von Hohlräumen durchsetzt war, als hätten Würmer es halb zerfressen: ein vier Billionen Jahre alter Nickel-Eisen-Meteorit aus demselben Stoff wie der Kern von Arbre. Während der annähernd vierundzwanzig Stunden seit der letzten Feier der Provene war er fast bis zum Boden gesunken; wenn wir uns streckten, konnten wir ihn beinahe berühren. Die meiste Zeit sank er kontinuierlich, da er für den Antrieb der Uhr verantwortlich war. Bei Sonnenauf- und -untergang dagegen, wenn er die Energie für die Öffnung und Schließung des Tagestors liefern musste, fiel er so schnell, dass er zufällig anwesende Zuschauer aus dem Weg springen ließ.
    Es gab noch vier weitere Gewichte an vier anderen, sich unabhängig bewegenden Ketten. Sie waren weniger augenfällig, weil sie nicht in der Mitte herabhingen und sich nicht viel bewegten. Sie liefen auf Metallschienen, die an den vier Säulen des Praesidiums befestigt waren. Jedes hatte eine regelmäßige geometrische Form: ein Würfel, ein Oktaeder, ein Dodekaeder und ein Ikosaeder, alle aus schwarzem Vulkangestein, das aus den Klippen von Ekba herausgehauen und auf Schlittenzügen über den Nordpol transportiert worden war. Jedes Mal, wenn die Uhr aufgezogen wurde, stiegen sie ein Stückchen höher. Der Würfel sank ein Mal im Jahr herab, um das Jahrestor, das Oktaeder alle zehn Jahre, um das Jahrzehnttor zu öffnen, weshalb beide sich jetzt ziemlich nah am oberen Ende ihrer jeweiligen Schienen befanden. Das Dodekaeder und das Ikosaeder taten dasselbe für das Jahrhundert- beziehungsweise Jahrtausendtor. Ersteres hatte ungefähr neun Zehntel, Letzteres etwa sieben Zehntel des Weges nach oben hinter sich gebracht. Allein aufgrund dieser Anordnung konnte man also erraten, dass es um 3689 war.
    Viel höher im Praesidium, in den oberen Regionen des Chronochasmus
– des weiten luftigen Raums hinter den Ziffernblättern, wo das ganze Uhrwerk zusammenkam -, befand sich eine hermetisch verriegelte steinerne Kammer, die ein sechstes Gewicht enthielt: eine Kugel aus grauem Metall, die auf einer Hebeschraube auf und ab lief. Sie hielt die Uhr am Ticken, während wir sie aufzogen. Ansonsten würde die Kugel sich nur bewegen, wenn der Meteorit auf dem Boden läge – mit anderen Worten, wenn wir es
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