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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Autoren: Brita Steinwendtner
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Mal war es auf einer langen Papierbahn untereinander geschrieben. Solch massive Bestätigung lässt auf ein Defizit schließen, dachte Tom, als er es im Vorübergehen sah. Wie gut konnte er das verstehen. Nicht die Selbstliebe, aber die Unsicherheit, die gut kaschierten Selbstzweifel. Wenn es still war im Haus, krochen sie, trotz seiner Dylan-Euphorie, aus den Ritzen der Mauern und der hölzernen Fußböden, auch die Bücher gaben nicht immer aufmunternde Antwort, er hatte alles gelesen, über das geworfene Ich und das gestörte Ich, das bewusste und das unbewusste, das Ich ohne Gewähr und das Ich, das in Gott aufgeht, über die Auslöschung des Ich in der Dichtung und seine Wiedergeburt in der Werbung, hatte gelesen über die Relativierung des Ich durch die moderne Hirnforschung, aber was sollte er damit anfangen, es hatte ihm nicht geholfen, blieb er letzten Endes nicht doch der Immergleiche, viel begonnen, wenig erreicht, sagte er sich, und er ging im Kreis um das Lusthaus in der Mitte des Lamandergrundes, ging zweimal, dreimal rundherum, pflückte sich rote Ribisel, schwang mit der Schaukel unter dem Nussbaum, warf plötzlich T-Shirt und Boxershort ins Gras, lachte über sich, sagte, nein, in diese Falle tapp ich nicht, die Welt ist kein Rondell, mach sie dir neu, mach dir den Tag zu deinem, gib es nicht auf, gib dich nicht auf, es ist ein Trugschluss, dass alles immer gleich bleibt, der Rahmen, ja, der schon, Tag und Nacht, Sehnen und Befriedigen, Tun und Scheitern, aber jeden Tag ist das Licht ein anderes, das über dem Böschungswald steht, jeden Tag ist mein Auge ein anderes, aufmerksam oder müde oder leer im Narrenkastl gefangen,
    du Narr, das bringt nichts, es ist Sommer,
    nackt geht er durch den Garten, legt sich auf dem Rücken in den Bach, vom Nacken rinnt die Kälte über Schultern, Brust, Leiste und Schenkel, kleines Glied, rot sind die Zehen, zuversichtlich sein Ich.
    *
    Immer noch gab es das Freitags-Beisel . Und es gab viele Feste. Spontan oft, manche vorbereitet. Plakate wurden aufgehängt:
    … Freitag, 12. November, 20 Uhr:
    Ann and the Microphonics spielen ACID Jazz,
    Lamandergraben, warm anziehen
    Oft waren mehr als hundert Leute da. Meistens unter ihnen: Dominik, den seine Mathematiklehrerin quälte bis aufs Blut, ja bis aufs Blut, dachte Tom, wenn er den Jungen sah, blass und in seiner ganzen jugendlichen Strahlkraft zerstört. Manchmal war Virgil dabei, der alte Holzfäller und begnadete Trompeter, auch Franz, der Sohn vom Riedlhof, dessen Vater einst im Gerede war um den Mord an Anjuschka, und mancher schräge Vogel aus der Gegend. Aber auch viele aus der Generation, die in den nächsten Jahren Einfluss gewinnen sollte auf das Leben in der Provinz: Redakteure, Radiomacher, Studenten, Lehrer, Schriftsteller, Ärzte, Manager, Männer wie Frauen.
    Die Musik- und Lyrik-Abende waren Kult. Meist lasen Tom und Matthias in verteilten Rollen. Manchmal spielte Sylvie mit, mit der Tom vorübergehend liiert war. Sie lasen Kurt Schwitters und André Breton, Ernst Jandl und viel H. C. Artmann, deklamierten oder sangen aus den Gedicht- und Liedertexten von Wolf Biermann und dann, das musste immer sein, die Liebes-, Angst- und Zorngedichte von Erich Fried – Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe …
    … und Applaus stieg in die Nacht und ja, die Liebe, und die Trommeln des Schlagzeugs dröhnten durch die Räume, Fledermäuse flatterten über die Veranda, der Phlox duftete, die Spaghettiträger rutschten, ein Glas brach, der Bach floss und der Hit war Gerhard Rühm –
    Das Seufzen der Rinde beim
    Der Vögel beim
    Der Waage beim Biegen
    Der Tiere beim Töten
    Der Risse beim Löten
    Des Eisens beim Schmelzen
    Des Glases beim Trinken
    Des Willens beim Wollen …
    … und das Publikum musste weiterdichten, es war ein Ritual, so dass sich schon einzelne Sprechchöre gebildet hatten, die ihre Kombinationen hinausbrüllten und einander zu übertönen suchten. Es gab Jamsessions und Jazzkonzerte auf dem Dachboden, wo Tom eine eigene Bühne aufgebaut hatte, manchmal auch auf der Veranda, das Publikum saß dann im Garten, ein riesiges Lagerfeuer brannte, viel Alkohol und Gras. Für die Fußball-Europameisterschaft 1996 installierte er eine Videoübertragung, auch sie unter dem Dach, wo einst Heu lag und duftete, bis es gefressen wurde.
    Dieses Leben war nicht durchzuhalten.
    Kein Fest lässt sich ewig feiern.
    Im Lamanderhaus geschah immer noch mehr als überall sonst im Dorf und
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