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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Autoren: Brita Steinwendtner
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doch, Tom, sagte Parmenides nach einer Weile bei einem neuen Glas Wein, dass der Fortschrittsglaube längst überholt ist. Er hat zwei Gesichter, ein helles und ein sehr dunkles.
    Zum Teufel mit diesen beiden Seiten, mit dieser – verzeih – Scheißdialektik!, rief Tom aufgebracht. Du hast ja recht, natürlich gibt es die Tendenz zum Immer-Größer und Immer-Mehr und immer mehr Ich, aber sozial, rechtlich und gesellschaftspolitisch muss man, wenn man kein gleichgültiger Mensch sein will, das Immer-Besser zum Ziel haben, es geht nicht anders, Parmenides, es gibt zu viel Unrecht und Ungerechtigkeit …
    Tom öffnete die zweite Packung Gitanes, sagte leise: Wenn wir zehn Prozent erreichen wollen, müssen wir’s auf hundert Prozent anlegen.
    Alles andere ist verlorene Liebesmüh’?
    Ja, ist verloren.
    Dann seid ihr Helden.
    Helden sind wir nicht, aber, na ja, wir brennen an beiden Enden.
    Verbrennt halt nicht.
    Rauch nicht so viel, Tom, sagte Roberta.
    Ich will euch ja nicht kränken, sagte Parmenides und nahm Roberta um die Schultern, seid mir nicht böse. Aber erzählt euch lieber Geschichten, statt die Welt verbessern zu wollen. Erzählt euch und allen anderen ein paar Märchen, so wie der, der den „Räuber Hotzenplotz“ erfunden hat. Der seine Geschichten aus dem Einfachsten erdacht hat: aus den drei bestimmten Artikeln. Derdiedas . Das ist Revolution. Der wollte nicht die Welt verändern, er wollte nur erzählen. Und gerade dadurch hat er, vielleicht, in manchen Köpfen etwas bewirkt. Wir sind ja alle nur Spieler auf einer Bühne, die wir nicht selbst gezimmert haben. Überhaupt – nehmt nicht so aufgeblähte Worte in den Mund. So ein inflationäres Getön.
    Tom klebte an diesem Abend zwei Zettel auf seinen Badezimmerspiegel. Beim Zähneputzen hatte er sie fortan vor Augen. Drei Minuten Zeit, darüber nachzudenken. Auf dem einen stand: derdiedas . Auf dem anderen ein Zitat des Geschichtsphilosophen Eric J. Hobsbawm:
    … wir wollen nicht die Hände in den Schoß legen, auch nicht in unbefriedigenden Zeiten. Soziale Ungerechtigkeit muss immer noch angeprangert und bekämpft werden. Von selbst wird die Welt nicht besser.
    Im Flimmern der schwarz-weißen Fernsehbilder lief das Weltgeschehen ab. Es war nah und unnahbar zugleich. Es waren Bilder, die durch neue Bilder überdeckt wurden. Man sah zu, war machtlos oder euphorisch, debattierte und stritt, freute sich und war verzweifelt, blieb erschöpft zurück. Fall des Eisernen Vorhangs, Bruderkämpfe im zerfallenden Jugoslawien, Dauerkonflikt zwischen Israel und Palästina, Abschlachten in Zentralafrika. Alles wurde ins Lamanderreich geholt und verglichen mit dem Leben hier. Die Tage und Nächte verflogen zwischen großer Politik und Lagerfeuerromantik und dann wurde wieder geblödelt, gekocht, repariert und pragmatisch organisiert, heiter und begeistert. Nebenbei wieder der eine oder andere offizielle Flohmarkt abgehalten, es war das Kramen im Vergangenen, wenn die Zukunft zu anstrengend wurde.
    Tom war das Zentrum, voll Optimismus und Unermüdlichkeit. War ideenreich und unideologisch. Spielte sich nie in den Vordergrund. Hatte ein leises Reden, als ob alles nur ein Vorschlag für Größeres wäre, das in jedem und allem schlummerte. Für viele Junge war er ein Idol, ohne dass er selbst es gewollt hätte. Er gab ihnen, sagte Matthias später, das Gefühl einer befreienden Selbstbestimmtheit und schuf ein Geflecht aus Jung und Alt aller sozialen Schichten.
    Nie sprach Tom über sich selbst.
    *
    Hey, seid ihr deppert , ihr idealisiert den Typ, so wen gibt’s doch gar nicht, sagte einer aus Dominiks Klasse, als sie im Bus auf dem Weg in das KZ Mauthausen waren, Anschauungsunterricht für die Maturanten in Geschichte.
    Kennst du ihn?
    Nein, hör euch nur ständig über ihn reden.
    Dann komm einmal mit in den Lamandergraben.
    Hab was anderes zu tun.
    Tatort schauen?
    Der Klassenkamerad war Mitglied einer Jugendgruppe, die sich im ersten Stock eines leerstehenden Hauses an der Hauptstraße des Dorfes einen improvisierten Treffpunkt eingerichtet hatte. Viele Geschäfte hatten zugesperrt, ein Nahversorger und ein Elektrogeschäft waren geblieben, sonst war nichts los im Dorf, das kein Dorfleben mehr hatte, nur an den Rändern wachsende Streusiedlungen von Einfamilienhäusern und das Kommen und Gehen von Bussen mit Touristen, die das Stift besuchten.
    Aus dem ersten Stock hing ein Transparent bis auf die Straße:
    I love myself
    I love myself
    I love myself …
    Neun
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