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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise
Autoren: Ulrich Woelk
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Hinweis darauf sein, daß
     Freud möglicherweise doch recht hatte, daß also die Sexualität der tiefste und damit dämonischste Trieb von allen ist. Tatsache
     scheint aber auch zu sein, daß diese Verfeinerung der Sexualität fast nur in der Fantasie stattfindet. Zumindest können alle
     über dieses Thema erscheinenden Artikel kaum über den Befund gelegentlich veröffentlichter Umfragen hinwegtäuschen, daß das
     Sexualleben der umfassenden Mehrheit ziemlich unspektakulär ist: ein- bis zweimal pro Woche knapp zwanzig Minuten – damit
     hat es sich. Ganz offensichtlich sind selbst harmlose Varianten wie Partnertausch oder Sex zu dritt oder viert noch nicht
     über das Stadium des Experiments hinausgekommen.
    Vielleicht ist der Prozeß noch weitreichender: Die Verlagerung der sexuellen Möglichkeiten in die Fantasie findet nicht nur
     in einsamen Stunden statt, sondern auch – wenn nicht sogar besonders – beim Beischlaf selbst. Man kann behaupten, Sex ist
     nur eine von vielen Formen, nicht allein zu sein, und von außen betrachtet, stimmt das natürlich: Man ist mindestens zu zweit.
     Ein alter Ausdruck für |226| den Beischlaf lautet, jemanden zu erkennen, und wenn man einen Menschen erkennen will, muß man ihn genau betrachten. Diese
     alte Ausdrucksweise könnte ein Hinweis darauf sein, daß man in früheren Zeiten beim Geschlechtsakt mit seiner Wahrnehmung
     ganz bei dem jeweils anderen war und nicht bei sich selbst. Heute könnte es andersherum sein: Man ist nur noch bei sich selbst,
     im virtuellen Raum der eigenen Sexualität. Dann wäre also Sex nicht eine Möglichkeit, nicht allein zu sein, sondern das Gegenteil
     – die größtmögliche Vereinsamung.
     
    Sie erreichen die
cottages,
ein Areal von hübsch gelegenen Blockhütten, die an einer Rezeption zu mieten sind, die vielleicht einmal eine Tankstelle oder
     ein Straßenrestaurant gewesen sein mochte. Über der Eingangstür ist ein verblichener Schriftzug angebracht:
Old Shell Lodge,
in der Tür selbst hängt ein Blechschild:
Yes! We’re open,
und in den Fenstern verstauben ein paar alte Getränkereklamen:
Budweiser, King of Bottled Beer. Say »Pepsi Please«.
    Hank erledigt die Formalitäten und kommt mit zwei Schlüsseln zurück. Die Hütten sind aus waagerecht aufgeschichteten Holzstämmen
     gebaut, aber innen lieblos eingerichtet wie die Motelzimmer. Jan nimmt ein Bier aus der Kühlbox und setzt sich auf die Stufen
     vor dem Eingang. Er hört Kristin im Bad hantieren, dann geht die Dusche. Er steht auf, lehnt sich an den Türpfosten und verjagt
     ein paar Mücken. Die Sonne ist hinter die Hügelketten getaucht, ist weitergezogen Richtung Pazifik.
Go West!
Die Sehnsucht nach Freiheit. Nur daß es keinen Westen mehr gibt, egal, in welche Richtung man fährt. Aber auch Vögel ziehen
     eine Zeitlang noch in Reviere, die längst nicht mehr sind, wie sie waren.
    Die Dusche wird abgestellt. Jan trinkt den letzten |227| Schluck Bier und stellt die Dose auf den Boden. Kristin kommt aus dem Bad und hat nicht wie sonst ein T-Shirt übergeworfen, sondern trägt ein Hemd, das sie noch nicht zugeknöpft hat und das bei jeder Bewegung um ihren Oberkörper weht.
     Sie steigt ohne Slip in ihre Jeans und reibt ihre Haare mit dem Handtuch trocken. Jan fragt sich, für wen die Vorstellung
     ist.
    Der Toyota biegt um die Ecke. Hank und Ariel haben für einen Grillabend eingekauft. Kristin schließt die unteren Knöpfe ihres
     Hemds und tritt hinaus. Hank stellt Tüten mit Koteletts und Flaschen auf den Boden und beginnt, den Kofferraum auszuräumen.
     Er lädt ein paar Säcke und eine Pappkiste auf den Boden, aus der er zwei schwarze Schalen und ein paar verchromte Stangen
     herauszieht.
    Kristin geht mit Ariel telefonieren, während Jan und Hank den Grill montieren. Sie trinken Bier,
Heineken,
das Hank besorgt hat. Über seinem Kopf verläuft ein Kondensstreifen, der von der weggetauchten Sonne angestrahlt wird. Ein
     quer durch den Himmel gespannter Lamettafaden.
    Hank befestigt die Chromstangen an einer der Schalen und schraubt die Beine in die dafür vorgesehene Halterung.
    »Bist du verheiratet?« fragt er.
    Jan erinnert sich, daß ihn Ariel vor ein paar Stunden dasselbe gefragt hat. Er schüttelt den Kopf. »Ich glaube, ich habe den
     richtigen Zeitpunkt verpaßt. Irgendwann hat man sich an sein Leben gewöhnt wie an einen Haarschnitt. Wenn man ihn ändert,
     hat man das Gefühl, das bin ich nicht.«
    Hank stellt den Grill auf die Beine und stülpt die
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