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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Autoren: Stefan Zweig
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Fron nicht mehr ertragen wollen, in Spanien wütet die Inquisition und gönnt auch dem Verläßlichsten keinen Frieden, in Italien, in Frankreich toben die Kriege. Tausende und Hunderttausende von Menschen, die solcher täglichen Bedrängnis müde werden, sind schon aus Abscheu vor dieser überreizten Welt in die Klöster geflüchtet; nirgends ist Ruhe, ist Rast, ist Friede für den »Jedermann«, der nichts sucht als sein kleines unbehelligtes Dasein. Und plötzlich kommt Botschaft und flattert mit ihren paar schmalen Blättern von Stadt zu Stadt, ein verläßlicher Mann, kein Gaukler, kein Sindbad, kein Lügner, sondern ein gelehrter Mann, der vom König von Portugal ausgesandt sei, habe weit hinter allen bisher bekannten Zonen ein Land entdeckt, wo noch Frieden für die Menschen zu finden ist. Ein Land, wo nicht der Kampf um Geld, um Besitz, um Macht die Seelen verstört. Ein Land, wo es keine Fürsten, keine Könige,keine Blutsauger und Froneintreiber gibt, wo man nicht die Fäuste sich blutig schinden muß um sein täglich Brot, wo die Erde noch gütig den Menschen nährt und der Mensch nicht des Menschen ewiger Feind ist. Es ist eine uralte religiöse, eine messianische Hoffnung, die dieser unbekannte Vesputius mit seinem Bericht entfacht; er hat an die tiefste Sehnsucht der Menschheit gerührt, an den Traum der Freiheit von Sitte, Geld, Gesetz und Besitz, an jenes unstillbare Verlangen nach einem Leben ohne Mühe, ohne Verantwortung, das in jedes Menschen Seele geheimnisvoll dämmert wie eine dunkle Erinnerung aus dem Paradies.
     
    Dieser sonderbare Umstand mochte wohl geneigt sein, jenen wenigen und schlecht gedruckten Blättern eine Wirkung in die Zeit zu geben, die weitaus diejenige aller anderen Berichte, selbst des Columbus, übertraf; aber der eigentliche Ruhm und die welthistorische Bedeutung dieses winzigen Flugblatts beruhen weder auf seinem Inhalt noch auf der seelischen Spannung, die es unter den Zeitgenossen erregte. Das eigentliche Geschehnis dieses Briefes ist merkwürdigerweise nicht der Brief selbst, sondern sein Titel, die zwei Worte, die vier Silben › Mundus Novus ‹, die eine Revolution ohnegleichen in der Betrachtung des Kosmos hervorgerufen haben. Bis zu dieser Stunde hatte Europa als das große geographische Ereignis der Zeit betrachtet, daß Indien, das Land der Schätze und der Gewürze, innerhalb eines Jahrzehnts auf einem zwiefachen Wege erreichtworden war: durch Vasco da Gama auf dem Wege nach Osten rund um Afrika und durch Christoph Columbus auf dem Wege nach Westen quer durch den bisher undurchfahrbaren Ozean. Mit Bewunderung hatte man die Schätze gesehen, die Vasco da Gama aus den Palästen Calicuts heimgebracht, mit Neugier von den vielen Inseln gehört, die der Großadmiral des Königs von Spanien, Christoph Columbus, seiner Meinung nach der Küste von China vorgelagert gefunden. Auch er hatte also seiner ekstatischen Aussage gemäß das Land des Großen Khans betreten, das Marco Polo beschrieben; damit schien die Welt umrundet, Indien, das seit tausend Jahren unerreichbare, von beiden Seiten erreicht.
    Aber nun kommt dieser andere Seefahrer, dieser merkwürdige Albericus, und meldet etwas noch viel Erstaunlicheres. Was er auf dieser Reise nach Westen erreicht habe, sei gar nicht Indien, sondern ein ganz neues, unbekanntes Land zwischen Asien und Europa, also ein völlig neuer Teil der Welt. Wörtlich schreibt Vesputius, daß man jene Regionen, die er im Auftrag des Königs von Portugal gefunden habe, getrost eine neue Welt nennen dürfe, » Novum Mundum appellare licet «, und begründet ausführlich diese seine Ansicht. »Denn keiner unserer Vorfahren hatte von diesen Ländern Kenntnis, die wir gesehen, und von dem, was sie enthalten; unser Wissen geht weit über das ihre hinaus. Die meisten von ihnen glaubten, daß sich südlich des Äquators kein Festland befände, sondern nur eine unendliche See,die sie die atlantische nannten, und auch diejenigen, die hier einen Kontinent für möglich hielten, waren aus verschiedenen Gründen der Meinung, er müsse unbewohnbar sein. Meine Fahrt hat nun bewiesen, daß diese Ansicht irrig ist und der Wahrheit schroff entgegensteht, da ich südlich des Äquators einen Kontinent fand, der in manchen Tälern viel mehr von Menschen und Tieren bevölkert ist als unser Europa, Asien und Afrika und überdies ein angenehmeres und milderes Klima besitzt als die anderen uns bekannten Erdteile.«
    Diese wenigen, aber entschiedenen Worte machen
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