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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Autoren: Stefan Zweig
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einmal ihren eigenen Namen zu unterzeichnen wissen, vielleicht allenfalls noch ein excribano, ein trockener Jurist, der nur Fakten kalt aneinanderreiht, oder ein Pilot, der Längengrade und Breitengrade notiert. Das große Publikum ist also noch zur Wende des Jahrhunderts ganz unbelehrt über das, was in diesen fernen Geländen eigentlich entdeckt worden ist. Und da kommt nun ein glaubhafter und sogar gelehrter Mann, der nicht übertreibt und fabuliert, sondern redlich berichtet, wie er am 14. Mai 1501 im Auftrag des Königs von Portugal über das große Weltmeer gefahren sei, zwei Monate und zwei Tage lang unter einem Himmel, der so dunkel und stürmisch war, daß man weder Sonne noch Mond habe erblicken können. Er läßt den Leser all die Schrecknisse miterleben, er erzählt, wie sie schon alle Hoffnung auf glückliche Landung aufgegeben hätten in ihren lecken und vonden Würmern bereits durchhöhlten Schiffen; da hätten sie dank seiner Geschicklichkeit als Kosmograph endlich am 7. August 1501 – das Datum ist anders als in seinen anderen Berichten, aber an solche Ungenauigkeiten muß man sich bei diesem gelehrten Manne gewöhnen – Land gesehen, und welch ein gesegnetes Land! Arbeit und Qual sei hier für den Menschen nicht vonnöten. Die Bäume bedürfen keiner Pflege und geben Früchte im Überfluß, die Flüsse und Quellen reines, gutes Wasser; das Meer ist voller Fische, die Erde unglaublich fruchtbar und strotzend von wohlschmeckenden und völlig unbekannten Früchten; kühle Brisen wehen über das reiche Land, und die dichten Wälder machen auch die sonnigsten Tage erquicklich. Tausenderlei Getier und Vögel gebe es hier, von dessen Vorhandensein Ptolemäus nie eine Ahnung gehabt. Die Menschen leben noch im vollen Zustand der Unschuld; sie seien rötlicher Hautfarbe, und zwar, erklärt der Reisende, weil sie von der Geburt bis zum Tode nackt gehen und derart von der Sonne gebräunt werden; sie besitzen weder Kleider noch Schmuck noch irgendwelches Eigentum. Alles gehöre ihnen gemeinsam, auch die Frauen, von deren jederzeit gefälliger Sinnlichkeit der gelehrte Herr ziemlich pikante Anekdoten serviert. Scham und sittliche Gebote seien diesen Naturkindern völlig fremd, der Vater schläft mit der Tochter, der Bruder mit der Schwester, der Sohn mit der Mutter; es gibt keine Ödipuskomplexe, keine Hemmungen, und doch werden sie hundertundfünfzig Jahre alt, fallssie nicht – dies ihre einzige unfreundliche Eigenschaft – sich zuvor kannibalisch verzehren. Kurzum, »wenn es irgendwo das irdische Paradies gibt, so kann es nicht weit von hier sein«. Ehe Vesputius von Brasilien – denn dies ist das geschilderte Paradies – Abschied nimmt, ergeht er sich noch ausführlich über die Schönheit der Sterne, die in andern Bildern und Zeichen über dieser gesegneten Hemisphäre leuchten, und verspricht, späterhin noch mehr von dieser und anderen Reisen in einem Buche zu berichten, »damit ein Erinnern an ihn an die Nachwelt komme« ( ut mei recordatio apud posteros vivat ) und man »Gottes wunderbare Werke auch in diesem bisher unbekannten Teile seiner Erde erkenne«.
     
    Man kann das Aufsehen verstehen, das dieser lebendige, farbige Bericht bei den Zeitgenossen erregt. Denn nicht nur die Neugier nach diesen unbekannten Zonen wird gleichzeitig befriedigt und angestachelt; unbewußt hat mit dem einen Wort, daß »das irdische Paradies, wenn es irgendwo existiere, nicht weit von hier sein könne«, dieser Vesputius an eine der geheimnisvollsten Hoffnungen seiner Epoche gerührt. Längst hatten die Kirchenväter, besonders die griechischen Theologen, die These aufgestellt, Gott habe nach Adams Sündenfall das Paradies keineswegs zerstört. Er habe es nur weggerückt auf die »Gegenerde«, in einen den Menschen nicht erreichbaren Raum. Diese »Gegenerde« aber solle nach der mythischen Theologie jenseits des Ozeans gelegensein, also hinter einer den Irdischen undurchdringlichen Zone. Nun aber, da die Kühnheit der Entdecker diesen bisher undurchdringlichen Ozean durchfahren und die Hemisphäre der anderen Sterne erreicht – könnte der alte Traum der Menschheit sich nicht doch erfüllen und das Paradies wiedergewonnen werden? Wie natürlich darum, daß die Schilderung jener von Vesputius erschauten Unschuldswelt, die sonderbar der Welt vor dem Sündenfall gleicht, eine Zeit erregt, die ähnlich wie die unsere inmitten von Katastrophen lebt. In Deutschland beginnen sich die Bauern zusammenzuscharen, weil sie die
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