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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Autoren: Stefan Zweig
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hat er nur still und bescheiden einige seiner nächsten Freunde wissen lassen, daß sich nicht alles so verhielt, wie es in jenen Büchern steht? Wir wissen darüber nur eines, nämlich, daß dieser ungeheuerliche Ruhm, der wie ein Orkan über Berge, über Meere, über Länder und Sprachen braust und schon hinübergreift in die andere, die neue Welt, seinem Leben nicht den mindesten greifbaren Ertrag gebracht. Vespucci bleibt so arm wie am ersten Tage, da er nach Spanien kam, so arm, daß, als er am 22. Februar 1512 stirbt, seine Witwe flehentliche Gesuche einbringen muß, damit man ihr die allernotdürftigste Pension von zehntausend Maravedís im Jahr bewillige. Das einzig Kostbare seiner Hinterlassenschaft, die Tagebücher seiner Reisen, die allein uns die ganze Wahrheit erschließen könnten, fällt an seinen Neffen, der sie so schlecht hütet, daß sie, wie so viele andere kostbare Aufzeichnungen aus der Entdeckerzeit, uns für immer verloren sind. Nichts bleibt, als ein zweifelhafter und ihm gar nicht recht zugehöriger Ruhm von der Mühe dieser stillen und verborgenen Existenz.
    Man sieht: dieser Mann, der vier Jahrhunderten eines der kompliziertesten Probleme zu lösen gegeben, hat im Grunde ein durchaus unkompliziertes und unproblematisches Leben geführt. Resignieren wir uns festzustellen: Vespucci war nicht mehr als ein Mann von mittlerem Maß. Nicht der Entdecker Amerikas, nicht der » amplificator orbis terrarum «, aber anderseits auch nicht der Lügner und Betrüger, als den man ihn gescholten. Keingroßer Schriftsteller, aber auch keiner, der sich einbildete, als solcher zu gelten. Kein großer Gelehrter, kein tiefsinniger Philosoph, kein Astronom, kein Kopernikus und Tycho de Brahe; vielleicht ist es sogar gewagt, ihn in die erste Reihe der großen Seefahrer oder Entdecker zu stellen. Denn nirgends war ihm durch ein unfreundliches Geschick wirkliche Initiative verstattet. Ihm wurde weder wie Columbus noch wie Magalhães eine Flotte anvertraut, immer, in allen Berufen und Stellungen, war er an das Subalterne gebunden, unfähig zu erfinden, zu entdecken, zu befehlen oder zu führen. Immer war er nur in der zweiten Reihe, immer im Schatten von anderen. Wenn trotzdem das strahlende Licht des Ruhms gerade auf ihn gefallen ist, so geschah es nicht durch besonderes Verdienst, nicht durch besondere Schuld, sondern durch Fügung, durch Irrtum, durch Zufall, durch Mißverständnis; es hätte ebensogut einen anderen Briefschreiber von derselben Reise treffen können oder den Piloten auf dem Nachbarschiff. Aber die Geschichte erlaubt nicht zu rechten, sie hat gerade ihn gewählt, und ihre Entscheidungen, selbst die irrigen und ungerechten, sind unwiderruflich. Durch zwei Worte – Mundus Novus –, die er oder jener unbekannte Herausgeber über seinen Brief gesetzt, und durch die › Vier Reisen ‹ – ob er sie nun alle gemacht hat oder nicht – ist er eingefahren in den Hafen der Unsterblichkeit. Sein Name ist nicht mehr zu löschen aus dem glorreichsten Buch der Menschheit, und vielleicht am besten ist seine Leistunginnerhalb der Erkenntnisgeschichte unserer Welt umschrieben mit dem Paradox, daß Columbus Amerika entdeckt, aber nicht erkannt hat, Vespucci es nicht entdeckt, aber als erster als Amerika, als einen neuen Kontinent erkannt. Dies eine Verdienst bleibt an sein Leben, seinen Namen gebunden. Denn nie entscheidet die Tat allein, sondern erst ihre Erkenntnis und ihre Wirkung. Der sie erzählt und erklärt, kann der Nachwelt oft bedeutsamer sein als der sie geschaffen, und im unberechenbaren Kräftespiel der Geschichte vermag oft der kleinste Anstoß die ungeheuersten Wirkungen auszulösen. Wer von der Geschichte Gerechtigkeit erwartet, fordert mehr, als sie zu geben gewillt ist: oft teilt sie dem einfachen, dem mittleren Manne Tat und Unsterblichkeit zu und wirft die Besten, die Tapfersten und Weisesten ungenannt ins Dunkel.
    Dennoch: Amerika braucht sich seines Taufnamens nicht zu schämen. Er ist der eines rechtschaffenen und mutigen Mannes, der noch in seinem fünfzigsten Jahr sich dreimal auf winzigem Schiff über den noch nicht ergründeten Ozean ins Unbekannte wagte als einer jener »unbekannten Matrosen«, die damals zu Hunderten ihr Leben wagten an Abenteuer und Gefahr. Und vielleicht ist sogar der Name eines solchen mittleren Menschen, der Name eines Mannes aus der anonymen Schar der Tapferen gemäßer einem demokratischen Lande als der eines Königs und Conquistadors und sicher gerechter,
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