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Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums

Titel: Amerigo: Die Geschichte eines historischen Irrtums
Autoren: Stefan Zweig
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dieser Titel ist gefährlich zweideutig. Er läßt leicht die Meinung zu, als wären die neuen Länder nicht nur »Neue Welt« von Vespucci benannt, sondern auch diese neue Welt von ihm entdeckt; wer die Titelseite nur flüchtig anblickt, muß unvermeidlich diesem Irrtum anheimfallen. Und dieses Buch, ein ums anderemal gedruckt, geht durch Tausende Hände und trägt mit gefährlicher Geschwindigkeit die Falschmeldung weiter, Vespucci sei der erste Finder dieser neuen Länder. Der kleine dumme Zufall, daß ein ahnungsloser Drucker in Vicenza den Namen Vespuccis statt jenen des Columbus auf die Titelseite seiner Anthologie setzt, wirft dem ebenso ahnungslosen Vespucci einen Ruhm zu, von dem er nicht weiß, und macht ihn ohne Willen und Wissen zum Usurpator einer fremden Leistung.
    Selbstverständlich hätte dieser eine Irrtum für sich allein nicht ausgereicht für eine so ungeheure, die Jahrtausende überspannende Wirkung. Aber es ist nur der erste Akt oder vielmehr der Auftaktdieser Komödie der Irrungen. Zufall muß weiter an Zufall emsig sich knüpfen, ehe dies trügerische Gespinst sich vollendet. Sonderbarerweise beginnt gerade jetzt, da mit seinen armen zweiunddreißig Seiten Vespucci seine ganze literarische Lebensleistung schon beendet hat, sein Aufstieg in die Unsterblichkeit, vielleicht der groteskeste, den die Geschichte des Ruhms gekannt. Und er beginnt in einem ganz anderen Teil der Erde, in einem Ort, den Vespucci nie betreten, und von dessen Existenz der seefahrende Kaufmann in Sevilla wahrscheinlich nie die leiseste Ahnung gehabt: in dem Städtchen St-Dié.
    Eine Welt erhält ihren Namen
    Niemand muß sich geographischer Unbildung schuldig erachten, wenn er den Namen des Städtchens St-Dié nie vernommen hat; selbst die Gelehrten haben mehr als zwei Jahrhunderte gebraucht, um herauszufinden, wo eigentlich jenes » Sancti Deodati oppidum « gelegen war, das auf die Namensgebung Amerikas so entscheidenden Einfluß genommen. Im Schatten der Vogesen versteckt und zu dem längst verschollenen Herzogtum Lothringen gehörig, besaß dies Örtchen keinerlei Verdienst, um die Neugier der Welt auf sich zu ziehen. Der damals regierende René II. führt zwar wie sein berühmter Ahn, »le bon roi René«, den Titel eines Königs von Jerusalem und Sizilien
    und des Grafen von Provence, ist aber in Wahrheit nichts als der Herzog dieses kleinen Stückchen lothringischen Lands, das er mit viel Liebe zu den Künsten und Wissenschaften redlich verwaltet. Sonderbarerweise – die Geschichte liebt das Spiel der kleinen Analogien – hatte schon vordem dies kleine Städtchen ein Buch produziert, das auf die Entdeckung Amerikas Einfluß geübt, denn gerade hier hatte der Bischof d'Ailly jenes Werk › Imago Mundi ‹ verfaßt, das zugleich mit dem Briefe Toscanellis Columbus den entscheidendenAnstoß gegeben, Indien auf dem Wege nach dem Westen zu suchen
    ; bis zu seinem Tode hatte der Admiral dies Werk als Leitbuch auf allen seinen Fahrten mit sich, und sein erhaltenes Exemplar zeigt unzählige Randbemerkungen von seiner Hand. So ist ein gewisser präcolumbianischer Zusammenhang zwischen Amerika und St-Dié nicht abzuleugnen. Aber erst unter Herzog René ereignet sich dort jener merkwürdige Zwischenfall – oder Irrtum –, dem Amerika seinen Namen für alle Zeiten verdankt. Unter dem Protektorat René II., wahrscheinlich auch unter seiner materiellen Beihilfe, tun sich in dem winzigen St-Dié ein paar Humanisten zu einer Art Kollegium zusammen, das sich Gymnasium Vosgianum nennt und Wissenschaft entweder lehren oder durch Drucklegung wertvoller Bücher verbreiten will. In dieser Miniaturakademie vereinigen sich Laien und geistliche Herren zu kulturellem Zusammenwirken; wahrscheinlich hätte man aber niemals von ihren gelehrten Diskussionen vernommen, wenn sich nicht – etwa 1507 – ein Drucker namens Gauthier Lud entschlossen hätte, dort eine Presse aufzustellen und Bücher zu drucken. An sich war der Ort gut gewählt, denn in dieser kleinen Akademie hat Gauthier Lud die rechten Leute als Herausgeber, Übersetzer, Korrektoren und Illustratoren zur Hand, außerdem ist Straßburg mit seiner Universität und seinen guten Helfern nicht weit; und da der freigebige Herzog als Protektor seine Unterstützung leiht, kann in dem stillen, weltabgeschiedenenStädtchen auch ein größeres Werk wohl gewagt werden.
    Aber welches Werk? Die Neugier der Zeit ist der Erdkunde zugewandt, seit Jahr für Jahr neue Entdeckungen die Kenntnis
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