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Ambra

Ambra

Titel: Ambra
Autoren: Sabrina Janesch
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wiederholte, dass es sich dabei um ein Missverständnis handeln müsse, und nach einer kurzen Pause fragte ich ihn, ob nicht er vorbeikommen könne, seit der Beerdigung litte ich unter einer gewissen Unbeweglichkeit. Ich könne mich einfach nicht aufraffen, seelisch wie körperlich.
    Schon gut, sagte Herr Kiesemöller. Ich komme.
    Ich fand den Atlas im untersten Regalfach. Emmerich hatte ihn mit Klebefolie eingeschlagen, die überall Blasengeworfen hatte. Als ich ihn aufschlug, fielen mir etwa zwei Dutzend ausgeschnittene und mit blauem Kugelschreiber datierte Zeitungsausschnitte entgegen, die sich allesamt mit der Stadt beschäftigten. Ich überflog sie kurz und legte sie auf den Tisch, etwas verwundert, dass Emmerich noch in diesem Jahr Ausschnitte gesammelt hatte. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er noch Zeitung las. Ich hatte angenommen, er war lediglich zu eitel oder zu vergesslich gewesen, sie abzubestellen.
    Das Meer auf dem Papier war von einem kräftigen Cyanblau, über das sich mehrere Fingerabdrücke verteilten. Als Kind war mir die Stadt wie ein unvorstellbar weit entfernter Ort vorgekommen, es enttäuschte mich ein wenig, zu sehen, dass sie kaum tausend Kilometer entfernt lag. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Stadt wie jede andere, ein bisschen Altstadt, ein bisschen viel Vorstadt, das Übliche eben. Ich seufzte.
    Kaum hatte ich den Atlas zugeschlagen, klingelte es bereits, und der Notar wartete auf Einlass. Auf dem Tisch stand noch immer die Tasse des Bestatters, aber wie gesagt, die Unbeweglichkeit. Kiesemöller schlug sofort seine Unterlagen auf.
    Höchst interessant, sagte er, das Ganze, höchst interessant, so eine Immobilie im Ausland. Seine Familie stamme übrigens aus derselben Gegend. Städte am Meer hätten doch das gewisse Etwas, auch wenn sie so arg im Krieg gebeutelt worden waren wie jene … Ob ich schon einmal dort gewesen sei, überhaupt? Herr Kiesemöller schob mir Emmerichs Testament über den Tisch, zusammen mit ein paar Dokumenten, auf denen Grundrisse und Quadratmeterzahlen zu sehen waren.
    Das ist unmöglich, sagte ich, und dann sagte ich für einen Moment gar nichts mehr.
    Wenn mein Vater Immobilien besessen hätte, hätte er mir davon erzählt. Dann wäre doch mehr Geld in der Kasse gewesen, dann hätten wir nicht so knapsen müssen, nein, Wohnungen tauchten nicht einfach so auf, und schon gar nicht in der Stadt am Meer, Emmerich hatte mir so oft von ihr erzählt, da wäre doch irgendwann mal ein Wort über eine Wohnung gefallen.
    Nein, keinesfalls, antwortete Kiesemöller. Ihr Herr Vater hat übrigens vorausgesehen, dass Sie so reagieren würden. Er bittet – nachträglich, wenn Sie so wollen – um Verzeihung, aber er habe den Mietzins den Verwandten überlassen wollen. Hatte ein gutes Herz, Ihr Vater. Sie müssen ihn verstehen. Eigentlich hatte er die Wohnung längst der Verwandtschaft überschreiben wollen. Zurückgeben, gewissermaßen. Er hatte sie selber erst vor wenigen Jahren geerbt. Lassen Sie mich nachsehen – von einem gewissen Marian Mysza. Erstaunlich, nicht wahr? Letztendlich wollte er diesen Schritt aber Ihnen überlassen.
    Ich stierte auf die Tasse und dann auf die Fensterscheibe. Eine Hummel war mit einem lauten
pock dagegen
geflogen und wuselte draußen auf dem Sims, vom Zusammenstoß mit dem Glas betäubt.
    Welche Verwandtschaft?, fragte ich, und Herr Kiesemöller sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob ich mich noch immer auf dem Planeten Erde befände.
    Das mit dem Telefonat erledigte Herr Przybylla. Einmal ins Haus gelassen, wollte er gar nicht wieder gehen; es erfüllte ihn wahrscheinlich mit tiefer Genugtuung, plötzlich zu erfahren, dass sein Widersacher selber polnische Familie hatte, sie aber lieber verschwiegen hatte – wahrscheinlich, sagte er, habe für meinen Vater das traurige Häuflein, das nach dem Krieg beschlossenhatte zu bleiben, nicht gezählt. Genauso wenig interessierte sich der polonisierte Teil für die Abtrünnigen, die nichts Besseres zu tun gehabt hatten, als nach Deutschland zu fliehen. Ausgerechnet! Mischa, sagte er, dieser Name sei ihm doch gleich verdächtig vorgekommen, natürlich, das sei es: Mysza! Herr Mäuseherz hatte sein letztes Geheimnis offenbart, und Herr Przybylla konnte seinen Großmut dadurch beweisen, dass er dem Töchterlein aus der Patsche half. Ich hatte ihm verschwiegen, dass ich seit drei Semestern einen Polnischkurs an der Universität belegt hatte, aus Protest meinem Vater gegenüber, aber
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