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Ambra

Ambra

Titel: Ambra
Autoren: Sabrina Janesch
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tätschelte Kingas Kopf, die angefangen hatte zu weinen und von ihm abließ. Er setzte sich auf und reckte seinen Kopf nach der Maus, die raschelnd hinter dem bunt bemalten Nachttischchen verschwand.
    Der Stein! Der alte Mischa stand aus seinem Sessel auf, schwankte und ließ sich wieder in die Polster fallen. Kinga drehte ihren Kopf zum Fenster. In der Dämmerung sah sie Przybylla auf seiner Terrasse stehen, auch er längst ein gebeugter und alter Mann. Das Rosengebüsch, das er vor Jahren gepflanzt hatte, bildete eine Art Sicherheitsstreifen zwischen den beiden Gärten, die ursprünglich zusammenhingen. Zu oft war Emmerich in der Vergangenheit über den Rasen hinübergegangen und hatte versucht, Przybylla davon zu überzeugen, dass die alte Linde vor dem Haus gefällt werden müsse; alles lasse er verlottern, man sei hier schließlich nicht in Polen.
    Der Stein, wiederholte der Alte. Du hast ihn genommen. Ja, antwortete Kinga, er lag ja da. Warum hast du ihn abgelegt?
    Weil er jetzt dir gehört. Die Stimme des alten Mischa klang brüchig und fast so heiser wie der Ruf der Eule, diesich seit einiger Zeit im Schornstein des Hauses eingenistet hatte. Es sei einfach so weit gewesen, sagte der Alte und beugte sich vor, hustete etwas. Nun sei ihre, Kingas, Zeit gekommen. Was er denn da reden würde, unterbrach ihn Kinga, das sei sein Schmuckstück, die einzige Verbindung zurück, das wisse er doch, für sie sei das doch lediglich ein etwas überdimensionierter Anhänger …
    Still! Mit einem Mal hatte sich der Alte aufgerichtet und die Tochter mit seinen hellblauen Augen fixiert. Eine Geschichte muss ich dir noch erzählen. Eine noch.
     

    Als mein Vater starb, verließ ich drei Tage und Nächte lang nicht das Haus. Ich erwog es nicht einmal, als der Bestatter im Wohnzimmer stand, einen Kaffee wollte – schwarz – und ich keinen hatte. Wortlos drückte ich ihm eine Tasse Tee in die Hand, woraufhin er sich in dem Sessel niederließ, in dem Emmerich immer gesessen hatte. Von da hatte man den besten Blick hinaus auf den Hof, die Mülltonnen und die Nachbarn, die heimlich Papier in die Restmülltonne stopften, worauf man sie lautstark beschimpfen und immer wieder die Polizei rufen konnte, die natürlich nie kam.
    Jemand anderes als ich wäre bestimmt erleichtert gewesen, zumindest heimlich. Endlich niemand mehr, dem man die Brote zerschneiden und dessen Wäsche man waschen musste, das hatte meine Kommilitonen immer geekelt, wirkliche Freunde waren das nicht gewesen, nein. Wenn wir zusammen im Café waren, hatten sie nie gewusst, worüber mit mir reden, und ich war zu müde gewesen, um dem Gespräch zu folgen. Jetzt, daVater tot ist, fangen die Dörthes und die Franziskas und die Annikas an, Kinder zu bekommen, werden bald selber Brote schneiden und Wäsche waschen, aber das, sagen sie, sei etwas anderes, das habe etwas mit Aufbau, Zukunft und einer Art von Selbsterfüllung zu tun. Für mich war diese Zeit ein für alle Mal vorbei. Familie hatte vor allem zu tun mit Traurigkeit, die sich früher oder später einstellte, meistens natürlich früher, wenn man merkte, dass man einander doch nicht mehr war als vertraute Fremde, und dann kam der Tod, und es gab nichts mehr zu berichtigen.
    Was ich mir denn vorstellen würde, wollte der Bestatter wissen, als Sarg für meinen Herrn Papa: Fichte, Eiche, lackiert ja oder nein, und dann war da der Grabstein, ich nickte, den brauchte man ja wohl, gleichzeitig aber brachte ich Emmerichs Anblick nicht aus meinem Kopf heraus und konnte dem freundlichen Herrn nicht weiter folgen.
    Emmerich, wie er in seinem Sessel gehangen hatte, als ich morgens mit einem Tellerchen Leberwurstbrot zu ihm reingegangen war und gedacht hatte, das Väterchen habe es wieder nicht in sein Bett geschafft, das gebe doch bloß wieder Rückenschmerzen, aber als ich laut
Guten Morgen, Papa
, gesagt hatte, da hatte es bloß auf der Fensterbank geraschelt, und Papa hatte sich nicht gerührt, und ich hatte das Tellerchen fallen lassen und war hinunter ins Wohnzimmer gerannt, wo das Telefon stand, mein Herz hatte gegen den Brustkorb gehämmert. Nie zuvor hatte ich eine Leiche gesehen.
    Um mich von der Erinnerung abzulenken, ließ ich den Bestatter alleine im Wohnzimmer sitzen – immer wieder zuckte er zusammen, wenn irgendwo das Trippeln von kleinen Füßchen zu hören war – und ging indie Küche, um mir ein Glas eiskaltes Leitungswasser zu holen.
    Der Herr vom Beerdigungsinstitut beherrschte sich und rührte so
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