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Ambra

Ambra

Titel: Ambra
Autoren: Sabrina Janesch
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Was?
    Weißt du, was das ist? Ich halte ihr den Anhänger vor die Nase.
    Wie könnte man in dieser Stadt wohnen und nicht wissen, was das ist. Sie nimmt den Bernstein und wiegt ihn prüfend in ihrer Hand.
    Nein, erwidere ich, das meine ich nicht. Das ist derBernstein, der euch gestohlen wurde. Bronka stutzt, ich sehe, sie ist verwirrt, muss nachdenken, ihr wurde doch nie etwas gestohlen, jedenfalls kein Anhänger, nein … Plötzlich sieht sie auf, alarmiert. Der Anhänger meines Schwiegervaters? Ich nicke: Er ist in der Familie geblieben, die ganzen sechzig Jahre lang. Jetzt ist er zurückgekehrt. Und das ist der Punkt: Alles, was geschehen ist, hängt mit dem Anhänger zusammen. Mein Vater hat mir als Kind jeden Abend Märchen erzählt, Gutenachtgeschichten, wie die Spinne gewandert ist, von Kasimir zu Konrad zu Emmerich. Ich habe immer geglaubt, er habe sich Märchen ausgedacht.
    Schreib’s auf, sagt Bronka. Über ihre Wange rinnt eine Träne und hinterlässt eine feuchte Spur.
    Schreib es auf. Von Anfang an.
    Sie legt den Anhänger auf die Tischplatte neben mir. Gegen den hellen Hintergrund erkenne ich den kleinen Körper, die Beinchen, die er von sich streckt, und schließlich auch den Faden, der sich entspinnt.
     

    Hinter den sieben Bergen, in einem von sieben unversehrten Fachwerkhäusern eines niedersächsischen Städtleins, wohnten Vater und Tochter einmütig beisammen. Die Mutter – Marta – war kurz nach der Geburt des Kindes verstorben, das war beinahe vierzig Jahre nach dem Ende des letzten großen Krieges, und so war das Einzige, was sie ihrem Kind mitgeben konnte, ein Name: Kinga, nach der Heiligen Kunigunde von Polen, geboren ins Königsgeschlecht der Árpáden, eine Prinzessin, die ihre Heimat verlassen musste, um ihr Lebtag in der Fremde zu verbringen.
    Die Geschichte der heiligen Kinga hatte Marta Mischa sehr berührt, und auf geheimnisvolle Weise schienen ihre Leben miteinander verbunden zu sein: Auch sie hatte als Kind ihre alte Heimat verlassen müssen – allerdings nicht, weil sie einem hohen Herrn versprochen war, sondern weil die Stadt am Meer, aus der sie stammte, plötzlich einem anderen Land gehören sollte. Marta wanderte mit ihrer Familie tausend Kilometer westwärts, über grüne Hügel und Wiesen und Bäche, aber all das war lange her, und übrig geblieben war nur ein Name für ein noch längst nicht geborenes Kind.
    Emmerich Mischa, der wie Marta ebenfalls aus der fernen Stadt stammte, ließ seine Frau gewähren, auch wenn ihm etwas Eingängigeres wie Heidi oder Berta besser gefallen hätte; als seine Frau starb, beglückwünschte er sich dazu, sich einmal nicht durchgesetzt zu haben, und verbat Kinga, sich über ihren Namen zu beschweren.
    Das junge Mädchen wuchs in dem Glauben auf, tatsächlich eine ins Exil verbannte Prinzessin zu sein. Eines Tages, nahm sie sich vor, würde sie in ihr Reich zurückkehren, und alle würden ihren Namen kennen und sie würde durch die Straßen gehen und die Leute würden sich verbeugen und Blumen werfen, denn sie wäre die rechtmäßige Gebieterin über die Stadt mit den goldenen Toren und den Kirchtürmen und den Speichern, die sich stolz in ihrer Mitte erhoben; ihre Stadt war ein prächtiger Ort, soviel wusste Kinga aus den Büchern ihres Vaters.
    Dass ihr Vater kein König war, sondern lediglich ein Schweißer in Frührente, störte Kinga wenig. Keiner der anderen Väter hatte so viel Zeit wie Emmerich, kein andererkaufte jede Woche ein neues Kleid, in dem das Töchterlein abends durch das Haus stolzieren und die Ratten, die Katzen und die wunderliche Mutter des Alten aufschrecken konnte, die mit ihnen unter einem Dach wohnten.
    Die Wohnstatt der drei war wenig königlich, und nur wegen der undichten Fenster, der lehmverputzten Wände und der wurmzerfressenen Balken konnten sie sich überhaupt die Miete leisten. Nach und nach erst entwickelte der alte Mischa Techniken, wie er streichen und tapezieren und Dielen abziehen konnte, ohne sich zu überanstrengen. Tagsüber, wenn Kinga in der Schule war, schimpfte und fluchte er dabei so laut, dass der Nachbar Marek Przybylla jedes Mal zusammenzuckte. Nie wäre es dem alten Mischa in den Kopf gekommen, ihn um Hilfe zu fragen, ihn, den Polen, dessen Deutsch schnarrte und knarrte.
    Bald schon befand sich das Häuschen in einem so ordentlichen Zustand, dass Kinga sich nicht mehr schämte, ihre Freundinnen einzuladen und mit ihnen in allen Ecken und Winkeln des Hauses Verstecken zu spielen, so, wie
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