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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition)
Autoren: Rafael Chirbes
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gesehen, obwohl es damals schon keine Volksbibliothek mehr gab und in der Stadtbibliothek wohl kaum mehr viele russische Bücher verblieben waren. Die Männer meiner Familie liebten diese Romane. Sie brachten sie nach Hause, bis der Krieg zu Ende war (und mit ihm das Leben meines Großvaters), Evangelien eines Verhaltenskodex, der sich ihrer Meinung nach durchsetzen sollte, die Macht der Massen, die Chronik der Arbeiterepopöe. Russisch meinte die Sowjetunion, Mutter aller Arbeiter der Welt. Mit Francisco haben wir oft über die Kraft gesprochen, mit der das Russische mehrere Generationen von Spaniern erleuchtet hat (obgleich für die Onkel, Großeltern und Eltern von Francisco dieses sowjetische Licht sie eher im Gegenlicht erreicht hat: als blendende Bedrohung). Heute sagst du russisch, und jeder denkt an das Schlimmste: Erpressung, Mafia, Frauenhandel, generell an den Handel mit Menschenfleisch, das, wie es einem bei Tierherden geht, aus der Ferne gesehen wie ein einziger Körper aussieht, aber, wenn du es vor dir hast, in seiner Individualität leuchtet, herrliche Leiber in den Clubs an der Landstraße, für nur vierzig oder fünfzig Euro stehen sie dir zur Verfügung. Das Sowjetische. Der Klassenkampf. Mein Vater hat sich immer geweigert, die Schreinerei zu vergrößern. Wir nehmen die Aufträge an, die wir erledigen können. Nicht mehr. Wir leben nicht von der Arbeit anderer, sondern von unserer eigenen. Wir beuten niemanden aus. Nur Álvaro. Aber Álvaro gehört zu uns, sagte er, sein Vater hat mir geholfen, als ich mit ihm im Gefängnis war, und er war solidarisch, als ich entlassen wurde. Álvaro war für meinen Vater ein Sohn, ein Grad von Verwandtschaft, mit dem ich mich nicht unbedingt brüsten konnte. Bei mir hieß es,nimm, pack an, trage, hebe. Er rief mich nie bei meinem Namen, sagte nie mein Sohn zu mir, so wie ich Liliana meine Tochter genannt habe: Warum kaufen Sie die Glühbirnen beim Eisenwarenhandel für zwei Euro, wo die beim Chinesen nur dreißig Cent kosten? Wieso kaufen Sie die Mülltüten im Supermarkt, wenn das Päckchen bei den Chinesen doppelt so viele Tüten enthält und immer noch billiger ist? Ich bringe sie Ihnen das nächste Mal mit, denn so bezahlen sie einfach zu viel. Du hast recht, Liliana, du kannst besser einkaufen als ich. Ihr Frauen achtet mehr auf Wirtschaftlichkeit. Ihr schaut euch die Preise an, rechnet, soundso viele Cents mehr oder weniger, Entfernungen, gespartes oder verschwendetes Benzin, Inhalt, ob zwölf oder fünfzehn Tüten in einem Päckchen sind, ihr schaut nach den Angeboten, steckt die Rabattmarken ein, sammelt Punkte.
    Wir haben mehr als ein Wildschwein gejagt, erlegten es mit dem Gewehr, das er unter einer Bodenklappe in der Werkstatt verbarg. Mein Onkel hat nie einen Waffenschein bekommen: Obwohl er zu jung gewesen war, um im Krieg zu kämpfen, zahlte er für die politische Ausrichtung der Familie. Als er heiratete und aus dem Haus zog, schenkte er das Gewehr mir (ich habe meine Hirschkuh eingefangen, hoffentlich schmückt sie mich nicht mit allzu vielen Enden, sagte er lachend und küsste seine Frau) sowie auch die Angelgerätschaften für die Fischarten im Sumpfgelände, die, wer weiß ob weniger schlüpfrig als die vom Meer, auf jeden Fall aber unserem Budget entsprachen, da wir kein Boot unser Eigen nannten, mit dem wir im Meer Netze auswerfen konnten, wie es einige unserer Nachbarn aus Olba taten, die ihre Schiffchen im nahen Hafen von Misent festmachten. Der Marjal war so etwas wie ein Fischteich: Sandgarnelen, Steinbeißer, Frösche, Schleien, Barben. Aale und Glasaale. Wir fingen die Glasaale, aber wir aßen sie nicht, meine Großmutter fand sie eklig: den Eimer mit diesem köchelnden Getier, das für sie zu den Würmern gehörte, stemmte der Onkel ihr lachend vors Gesicht,und mein Vater, der in einer Ecke der Küche auf einem Steinbänkchen saß, beobachtete die Szene: Lass die Mutter in Ruh, siehst du nicht, dass es sie ekelt?, wobei sich seine maskenhaft starren Züge fast in einem Anflug von Lächeln erweichten. Wir fischten sie, um sie einem Händler zu verkaufen, der Kontakte nach Bilbao hatte; wir haben damit ein gutes Geschäft gemacht. Die Glasaale wurden vor Weihnachten teuer bezahlt, erst sehr viel später habe ich erfahren, was für Preise diese Viecher, die meine Großmutter als widerwärtige Würmer bezeichnete, in jener Jahreszeit wirklich erzielten. Bei Unwetter oder Sturmflut kamen vom Meer die Wolfsbarsche herein. Heute sind diese
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