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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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vielmehr des Jargons, den sie als Mädchen in den Hafenkneipen New Yorks und Shanghais aufgeschnappt hatte.
    Cranston reagierte nicht auf die Provokation. Ein sadistisches Lächeln spielte um seine Züge, während er den Finger am Abzug mit genüsslicher Langsamkeit krümmte.
    In diesem Moment kam Hingis dazu, seine Waffe gleichfalls im Anschlag. Für den Bruchteil eines Augenblicks war Cranston abgelenkt und wusste nicht, auf wen von beiden er zielen sollte – und Sarah handelte.
    Blitzschnell holte sie aus und schleuderte den Säbel. Einmal überschlug sich die Klinge in der Luft – dann fuhr sie tief in Horace Cranstons Brust.
    Der Arzt zuckte zusammen und taumelte zurück. Der Schuss aus seiner Waffe löste sich, doch die Kugel ging fehl und jagte ziellos ins Nirgendwo. Das blütenweiße Hemd unter Cranstons Gehrock färbte sich rot, der Ausdruck in seinem Gesicht verriet schieren Unglauben. Er ließ den Revolver fallen, griff mit zitternden Händen nach der Waffe in seinem Brustkorb und zog sie heraus. Klirrend landete der Säbel auf dem Boden, Cranston stieß rücklings gegen die niedrige Ummauerung.
    »Sie … Sie haben …«, war alles, was er fassungslos hervorbrachte.
    »Ich habe Ihnen ein Versprechen gegeben, wissen Sie noch?«, erkundigte sich Sarah und trat auf ihn zu -und während er noch furchtsam auf sie starrte, versetzte sie ihm einen harten Stoß, der ihn über die Brüstung und in den gähnenden Abgrund beförderte.
    »Tally-ho«, sagte Sarah bitter, während er kreischend in der Tiefe verschwand. »Das ist für Perikles und Polyphemos.«
    »Komm weiter«, forderte Hingis sie auf, und sie folgten der Gasse um das Gebäude herum zu einem Tor, das offen stand und auf ein kleines, abschüssiges Felsplateau führte. Es hatte die Form eines Viertelkreises. Darüber schwebte, etwa fünf Yards über dem Boden, der Ballon. Eine Strickleiter war herabgelassen, über die Cranston nach verrichtetem Mordwerk vermutlich hätte einsteigen sollen. Nun jedoch wurden die Haltetaue gekappt und der Ballast abgeworfen, sodass der Ballon weiter in die Höhe stieg.
    In dem Korb, der unter dem riesigen Gebilde hing, sah Sarah drei Personen: Ludmilla von Czerny, einen ihrer vermummten Diener – sowie den Mann, dessentwegen sie die lange Odyssee, die sie von London nach Prag und schließlich bis in die Tiefen des Hades geführt hatte, überhaupt auf sich genommen hatte.
    Kamal …
    Sie sah seine athletische Gestalt, seinen stolzen Wuchs und seine blassen, nichtsdestotrotz wieder von Leben erfüllten Gesichtszüge, blickte ihm in die dunklen Augen – und prallte erschrocken zurück.
    Denn selbst über die Distanz konnte Sarah Kincaid erkennen, dass keine Freude in den Zügen ihres Geliebten aufflackerte, als er sie erblickte, keine Zuneigung – und kein Erkennen.
    »Kamal, nein!«, rief sie, während der Mann, dem ihr Herz gehörte, wie ein Fremder auf sie starrte und der Ballon weiter in den Himmel stieg. Die einzige Antwort, die sie erhielt, war das schallende Gelächter Ludmilla von Czernys, das der Wind herantrug und dessen Echo von den Klostermauern widerhallte.
    Hingis sprang vor und riss das Gewehr in den Anschlag, um der flüchtigen Schurkin eine Kugel hinterherzuschicken. Sarah jedoch fiel ihm in den Waffenarm.
    »Lass mich«, verlangte er.
    »Nein«, rief Sarah entschieden. »Die Gefahr, Kamal zu treffen, ist zu …« In diesem Moment packte sie etwas am linken Arm, riss sie herum und schmetterte sie zu Boden. Erst als sie sah, wie sich der Ärmel ihrer pelzgefütterten Jacke dunkel färbte, erinnerte sie sich an den peitschenden Knall, und ihr wurde klar, dass sie getroffen worden war.
    Dass Hingis mit einem Aufschrei zu ihr eilte, nahm sie nur am Rande wahr – ihr Blick galt dem Ballon, der unaufhaltsam in den Himmel entschwand, an Bord den Mann, den sie liebte. Dass von dort auch der Schuss abgegeben worden war, der sie niedergestreckt hatte, und dass Ludmilla von Czerny sie weiter mit höhnischem Gelächter überschüttete, bekam sie nicht mehr mit.
    Alles, was sie sah, war der Ballon, der in unerreichbare Ferne entschwebte – auch dann noch, als sie die Augen längst geschlossen hatte und der Schmerz, der Blutverlust, aber auch die Strapazen der letzten Tage sie längst das Bewusstsein hatten verlieren lassen.

15.
    P ASSAGIERSCHIFF »C ONCORDIA «
16. N OVEMBER 1884
    »Sarah? Sarah!«
    Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, ein einsamer Ruf in der Dunkelheit.
    »Sarah …?«
    Die
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