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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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oder vier Yards steil abfallenden Felsgesteins. Danach ging es senkrecht in die gähnende Tiefe. Eisiger Morgenwind zerrte an ihr, und einmal mehr war ihr übel.
    Noch einmal wandte sie sich um.
    »Kamal?«, fragte sie.
    »Vertrau mir«, versicherte die Gräfin mit gemeinem Grinsen, »er ist in guten Händen.«
    Sarahs Lippen bebten, sie zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Angst. »Darf ich ihn … noch einmal sehen?«, erkundigte sie sich leise und voller Resignation, da sie die Antwort bereits ahnte.
    »Vielleicht irgendwann«, beschied Ludmilla ihr spottend, »in einer anderen Welt. Leb wohl, Schwester.«
    Sarah nickte nur, dann wandte sie sich wieder dem Abgrund zu. Weder wollte sie ihren Feinden die Genugtuung gönnen, die Tränen auf ihren Wangen zu sehen, noch auf den Moment warten müssen, in dem ein anderer Mensch über ihr Ende entschied.
    Ein letztes Mal wollte sie frei sein und den Zeitpunkt selbst bestimmen. Sie bekreuzigte sich und sprach ein stilles Gebet, dann schloss sie die Augen, und ihr Körper straffte sich, um den entscheidenden, letzten Schritt zu tun, dem Abgrund entgegen …

14.
    Der Augenblick, in dem sich Sarah Kincaid in die Tiefe stürzen wollte, war derselbe, in dem ein peitschender Knall die Stille über dem Berg zerriss, gefolgt von einem heiseren Schrei.
    Noch auf der Ummauerung stehend, riss Sarah jäh die Augen auf – um sich einem Trupp hell gewandeter, rote Westen tragender Kämpfer gegenüberzusehen, die von Südwesten her den Berg erklommen hatten und über die Ringmauer sprangen, blanke Klingen in den Händen oder Martini-Henry-Gewehre aus britischer Fertigung im Anschlag.
    Griechische Soldaten!
    Abermals krachte ein Schuss, und Sarah sah, wie einer ihrer Bewacher mit durchschlagener Brust zu Boden sank, wo bereits einer seiner Kumpane verwundet lag.
    Dann überschlugen sich die Ereignisse.
    Während die Kämpfer der Bruderschaft ihre Waffen herumrissen, um das Feuer zu erwidern und sich mit den Angreifern, von denen Sarah etwa ein Dutzend zählte, ein erbittertes Scharmützel zu liefern, warf sich Cranston hinter einem Felsblock in Deckung. Die Gräfin Czerny jedoch stieß ein wütendes Heulen aus und wandte sich zu ihrer Feindin um, um sie selbst in den Abgrund zu stoßen.
    Sarah jedoch war schneller gewesen. Augenblicklich hatte sie sich abgewandt und balancierte die Mauer entlang, den fremden Kämpfern entgegen und ungeachtet des Bleigewitters, das die Luft erfüllte.
    »Sarah, hierher!«, rief jemand. Sie sprang von der Mauer und flüchtete sich Haken schlagend und mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf hinter einen großen Strauch, der sie wenn schon nicht den Kugeln, so doch den Blicken ihrer Häscher entzog – und in dessen Schutz sie eine unverhoffte Bekanntschaft machte.
    Die eines tot Geglaubten …
    »Friedrich?«, fragte sie ungläubig. Das von wirrem Haar umrahmte und durch eine halb zerstörte Nickelbrille blickende Gesicht des Schweizers aus dem Kragen einer griechischen Uniform lugen zu sehen war ungewohnt. Dennoch hatte sie fraglos den verloren geglaubten Freund vor sich, wohlbehalten und am Leben.
    »So ist es«, bestätigte er grinsend, während er die Fesseln um ihre Handgelenke löste.
    »Aber ich dachte, Sie … du wärst ertrunken.«
    »Natürlich nicht.« Er feixte. »Alexandria hat mir klargemacht, wie wichtig es sein kann, sich im feuchten Element zu behaupten. Also habe ich mich dem Schwimmkader der Universität angeschlossen. Mit nur einer Hand reicht es zwar nicht zur Meisterschaft, aber es genügt, um nicht unterzugehen.«
    »Offensichtlich«, staunte Sarah. »Und du hast Hilfe geholt …«
    »Nachdem ich zwei Tage lang hilflos umhergeirrt war, stieß ich auf eine Patrouille griechischer Soldaten. Ich hätte nie gedacht, dass meine Kenntnisse in Altgriechisch mir eines Tages einmal das Leben retten könnten.«
    »Und mir«, fügte Sarah grinsend hinzu. »Tut mir leid wegen der Verspätung. Ich hätte lieber …«
    Er verstummte, als sie sein Gesicht kurzerhand in die Hände nahm und ihn auf den Mund küsste. »Schon verziehen«, sagte sie. »Und jetzt komm mit.« »Wohin?« »Kamal«, sagte Sarah nur. »Czerny hat ihn in ihrer Gewalt …«
    Ein wilder Kampf war auf den beiden Innenhöfen entbrannt. Auch in den weiter westlich gelegenen Bereichen der Anlage waren plötzlich Soldaten aufgetaucht, die in einer todesmutigen Kletterpartie den fast senkrecht aufragenden Fels erklommen hatten. Weitere Kämpfer, zu denen auch Hingis gehörte,
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