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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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anderer Ansicht. Jeder über vierzig hatte im Krieg gekämpft und gelitten, hatte den Tod vieler Menschen erlebt und würde daher einfach nicht glauben wollen, daß all die Opfer mit einem Absinken in die Bedeutungslosigkeit belohnt wurden.
    Bei der nächsten Wahl waren Edward und Florence zum ersten Mal stimmberechtigt, und sie begeisterten sich für die Idee, Labour konnte einen ebenso großen, erdrutschartigen Sieg wie 1945 erringen. Die ältere Generation, die immer noch vom Empire träumte, würde in ein, zwei Jahren bestimmt Politikern wie Gaitskell, Wilson und Cros-land weichen müssen, neuen Männern mit Visionen von einem modernen Land, in dem Gleichheit herrschte und die Ärmel aufgekrempelt wurden. Wenn Amerika einen gutaussehenden, mitreißenden Präsidenten wie Kennedy haben konnte, warum sollte es so jemand nicht auch in Großbritannien geben? Es würde schon genügen, wenn derjenige einem Kennedy wenigstens dem Temperament nach gleichkam, denn soviel Ausstrahlung wie er hatte niemand in der Labour-Partei. Die Ewiggestrigen, die in Gedanken noch im letzten Weltkrieg kämpften und sich Disziplin und Entbehrung auf die Fahnen schrieben - deren Zeit war abgelaufen. Die Hoffnung, daß sich alles schon bald zum Besseren wenden und jugendlicher Eifer wie Dampf unter Druck nach einem Ventil suchen würde, verband sich für Florence und Edward mit der Begeisterung für ihr eigenes, gemeinsames Abenteuer. Die Sechziger waren das erste Jahrzehnt ihres erwachsenen Lebens, und das gehörte ganz allein ihnen. Die Pfeifenraucher da unten mit ihren silbernen Blazerknöpfen, ihren doppelten Caol-Ila-Whiskys, den Erinnerungen an die Feldzüge in Nordafrika und in der Normandie und ihren Soldatensprüchen, die konnten keinen Anspruch mehr auf die Zukunft erheben. Platz da, die Herren!
    Aus dem sich lichtenden Nebel tauchten Bäume auf, grüne, kahle Klippen hinter der Lagune und das silbrige Meer; weiche Abendluft umwehte ih-ren Tisch, und sie taten immer noch, als wollten v sie essen, jeder gelähmt von seinen ureigenen Ängsten. Florence schob die Bissen auf ihrem Teller hin und her. Edward aß, um den Schein zu wahren, nur kleine Kartoffelkrumen, die er sich mit der Gabelkante abteilte. Hilflos hörten sie dem zweiten Nachrichtenthema zu und wußten, wie kläglich es doch war, daß sich ihre Aufmerksamkeit wie jene der Gäste unten auf die Neuigkeiten richtete. Es war ihre Hochzeitsnacht, aber sie hatten sich nichts zu sagen. Durch den Boden unter ihren Füßen drang das Wort »Berlin«, und sie wußten, daß es um die Geschichte ging, die seit kurzem alle Welt faszinierte: eine Flucht aus dem kommunistischen Osten in den Westteil der Stadt mit einem gekaperten Ausflugsdampfer quer über den Wannsee; die Flüchtlinge hatten sich im Steuerhaus verkrochen, um den Kugeln der ostdeutschen Grenzpolizei zu entgehen. Florence und Edward hörten zu und lauschten dann, so unerträglich sie es auch fanden, noch der dritten Meldung über den Abschluß einer islamischen Konferenz in Bagdad.
    Durch eigene Dummheit im Bann des Weltgeschehens! So konnte es nicht weitergehen. Zeit zu handeln. Edward lockerte seinen Schlips und legte Messer und Gabel mit Nachdruck nebeneinander auf den Teller.
    »Wir könnten nach unten gehen, da hören wir besser.«
    Es sollte humorvoll klingen, da er seinen Sarkasmus gegen sie beide richtete, aber die Worte brachen überraschend heftig aus ihm heraus, und Florence errötete. Sie faßte es als Kritik auf, daß sie sich allem Anschein nach stärker für die Nachrichten als für ihren Mann interessierte, und ehe er seine Bemerkung abschwächen oder irgendwie überspielen konnte, warf sie hastig ein: »Wir könnten uns auch aufs Bett legen«, um sich dann nervös eine unsichtbare Strähne aus der Stirn zu streichen. Weil sie ihm zeigen wollte, wie sehr er sich irrte, schlug sie das vor, was er sich am meisten wünschte und wovor sie sich fürchtete. Gewiß wäre sie glücklicher oder zumindest doch nicht ganz so unglücklich gewesen, wenn sie jetzt nach unten in die Hotelhalle gehen könnte, um sich in aller Ruhe mit den übrigen Frauen auf dem blümchengemusterten Sofa zu unterhalten, während sich die Männer mit ernsten Mienen den Nachrichten zuwandten, dem Ansturm der Geschichte. Alles wäre ihr lieber.
    Ihr Ehemann lächelte, stand auf und reichte ihr feierlich über den Tisch hinweg die Hand. Er war ein bißchen rosig im Gesicht. Sekundenlang blieb die Serviette an seinem Schoß haften, hing dort
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