Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
war es, wozu sie ihr Jawort gegeben hatte. Sie hatte sich bereit erklärt, Derartiges zu tun und sich Derartiges antun zu lassen. Nichts anderes hatte sie mit ihrem Namen unterzeichnet, als sie nach der kirchlichen Feier mit Edward und den Eltern in die düstere Sakristei gegangen war, um sich ins Eheregister einzutragen; der Rest, ihre angeblich erworbene Reife, Konfetti und Kuchen, das war nur Beiwerk. Und sie hatte dies allein sich selbst und ihrem Verhalten im letzten Jahr zuzuschreiben, denn hierauf war alles hinausgelaufen; ihre Schuld war es, nur ihre Schuld, und davon wurde ihr jetzt erst richtig übel.
    Als er sie stöhnen hörte, wußte Edward, sein Glück war fast vollkommen. Ihn überkam eine herrliche Schwerelosigkeit, so als schwebte er mehrere Zentimeter über dem Boden, ja als ragte er hoch über ihr auf. Es war ein schmerzlich schönes Gefühl, wie ihm das Herz bis in die Kehle pochte. Die leichte Berührung ihrer Hände, unweit von seinem Unterleib, erregte ihn, ihr williger, begehrenswerter Körper, den er in den Armen hielt, ihr leidenschaftliches Schnauben durch die Nase. All das brachte ihn an den Rand einer ungekannten Ekstase, heftig und kalt, unterhalb der Rippen, während ihre Zunge sich sanft um seine schmiegte, als er zu ihr vorstieß. Vielleicht konnte er Florence bald einmal überreden - vielleicht noch heute abend, und vielleicht mußte sie gar nicht überredet werden -, seinen Schwanz mit ihren zarten Lippen zu umschließen. Hastig drängte er den Gedanken beiseite, denn er drohte ernstlich zu früh zu kommen. Er spürte es bereits in sich aufsteigen, fühlte die nahende Schmach. Gerade noch rechtzeitig fielen ihm die Nachrichten ein, und er stellte sich das Gesicht des Premierministers vor: Harold Macmillan, groß, vornübergebeugt, ein richtiges Walroß, ein Kriegsheld, ein alter Haudegen, der alles verkörperte, nur eben keinen Sex, und der daher für seine Zwecke ideal geeignet war. Handelsbilanzdefizit, Lohnpause, Preisbindung. Manch einer schimpfte über ihn, weil er das Empire verloren gab, doch angesichts der Veränderungen, die über Afrika hinwegfegten, blieb ihm im Grunde nichts anderes übrig. Einem Labour-Politiker wäre das niemals verziehen worden, er aber hatte in der Nacht der langen Messer ein Drittel seines Kabinetts entlassen. Dazu brauchte man Mut. Mackie Messer war er in einer Zeitung genannt worden, Macbeth in einer anderen. Brave Bürger beschwerten sich, er begrabe die Nation unter einer Lawine von Fernsehern, Autos und Supermärkten. Er gab den Menschen, wonach sie verlangten. Brot und Spiele, eine neue Nation. Und jetzt wollte er auch noch, daß wir uns Europa anschlössen. Doch wer konnte da schon mit Sicherheit behaupten, daß Macmillan auf dem Holzweg war?
    Endlich hatte Edward sich beruhigt. Seine Gedanken verflüchtigten sich, und er wurde aufs neue zu seiner Zunge, ihrer Spitze, im selben Augenblick, als Florence entschied, daß sie es nicht länger ertrug. Sie fühlte sich wie gefesselt und bekam kaum noch Luft, sie war halb erstickt, und ihr war übel. Außerdem hörte sie einen Laut, nicht stufenweise ansteigend, sondern mit einem langsamen Glissando, nicht ganz der Klang einer Geige, auch keine Stimme, eher etwas dazwischen, immer höher, immer durchdringender, doch nie außerhalb des Hörbaren, einen Geigenton, der ihr in drängenden Zischlauten und Vokalen, primitiver als alle Worte, etwas Wichtiges zu verstehen geben wollte. Vielleicht kam er aus dem Zimmer oder vom Korridor, vielleicht war er nur ein Tinnitus in ihrem Kopf, vielleicht erzeugte sie ihn auch selbst. Ihr war es egal, sie mußte jedenfalls hier raus.
    Sie warf den Kopf herum und befreite sich aus Edwards Umarmung. Noch während er sie überrascht anschaute, mit offenem Mund und fragendem Blick, faßte sie ihn an der Hand und zog ihn zum Bett. Sie war wie von Sinnen, irrsinnig sogar, denn eigentlich wollte sie nichts lieber, als aus dem Zimmer laufen, durch den Garten, den Weg hinunter zum Strand, um dort allein zu sein. Eine einzige ruhige Minute würde ihr schon helfen. Doch ihr Pflichtgefühl war übermächtig, sie durfte sich ihm nicht widersetzen. Sie ertrüge es nicht, Edward zu enttäuschen. Und sie wäre überzeugt, völlig im Unrecht zu sein. Wäre die gesamte Hochzeitsgesellschaft, Gaste und engste Familie, irgendwie unsichtbar in dieses Zimmer gepfercht und schaute ihr zu, hielten diese Geister ausnahmslos zu Edward und billigten sein drängendes, angemessenes Verlangen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher