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Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
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albern wie ein Lendentuch und trudelte dann langsam zu Boden. Wollte Florence keine Ohnmacht vortäuschen, blieb ihr keine andere Wahl, als aufzustehen, und sie war ein hoffnungsloser Fall, wenn es ums Schauspielen ging. Also erhob sie sich, griff nach seiner Hand und war überzeugt, ihr Lächeln würde starr und wenig glaubhaft wirken. Es hätte ihr auch nicht geholfen, wenn sie gewußt hätte, daß Edward sie in seiner traumähnlichen Entrückung bezaubernder fand denn je. Wegen ihrer Arme, erinnerte er sich später, so schlank, so zart, die sich bald sehnsüchtig um seinen Hals schlingen würden, ihrer schönen, hellbraunen, vor Leidenschaft schimmernden Augen und ihrer sanft zitternden Unterlippe, über die sie eben jetzt mit ihrer Zunge fuhr.
    Mit der freien Hand wollte er die Weinflasche und die halbvollen Gläser fassen, doch hatte er sich zu viel vorgenommen, die Gläser klirrten aneinander, die Stiele kreuzten sich, Wein schwappte über. Also griff er sich nur den Flaschenhals. Selbst in seiner aufgewühlten, übernervösen Verfassung meinte er, die Zurückhaltung seiner Frau verstehen zu können. Und um so glücklicher machte es ihn, daß sie sich diesem wichtigen Ereignis gemeinsam näherten, dieser Schwelle zu einer neuen Erfahrung. Schließlich blieb es ebenso erregend wie wahr, daß der Vorschlag, sich aufs Bett zu legen, von ihr ge-kommen war. Die Heirat hatte Florence befreit. Ohne ihre Hand loszulassen, ging er um den Tisch herum und zog seine Frau an sich, um sie zu küssen. Da er es aber ungehörig fand, dabei eine Flasche in der Hand zu halten, stellte er den Wein wieder ab.
    »Du bist so wunderschön«, flüsterte er.
    Sie rief sich in Erinnerung, wie sehr sie diesen Mann liebte. Er war gütig, feinfühlig, er erwiderte ihre Liebe und würde ihr nichts antun. Sie schmiegte sich fester in seine Umarmung, preßte sich enger an seine Brust und sog den vertrauten Geruch ein, der so beruhigend nach Wald duftete.
    »Ich bin glücklich mit dir.«
    »Ich auch«, erwiderte sie leise.
    Kaum küßten sie sich, spürte sie seine pralle, harte Zunge, die sich forsch zwischen ihre Zähne schob. In sie eindrang. Ihre eigene Zunge rollte sich zusammen und wich in unwillkürlichem Ekel zurück, machte ihm Platz. Er wußte genau, daß sie solche Küsse nicht mochte, nie zuvor war er so fordernd gewesen. Die Lippen fest auf ihre gepreßt, tastete er sich über den fleischigen Boden ihrer Mundhöhle und fuhr die Zahninnenseite ihres Unterkiefers entlang bis zu jenem Loch, in dem vor drei Jahren noch ein schiefer Weisheitszahn gewachsen war, bis man ihn dann unter Vollnarkose gezo-gen hatte. Wenn Florence über etwas nachdachte, verirrte sich ihre eigene Zunge oft in diesen Spalt, weshalb er für sie eher eine Idee war als ein konkreter Ort, ein Freiraum für Gedanken statt eine bloße Lücke im Zahnfleisch, und es irritierte sie, daß eine andere Zunge dorthin vordringen konnte. Das steife, spitz zulaufende Ende dieses fremden, lebendig zuckenden Muskels widerte sie an. Edward preßte die linke Hand gleich unterhalb ihres Nak-kens gegen das Schulterblatt, wodurch er ihren Kopf an sich drückte. Doch je heftiger Platzangst und Atemnot wurden, desto entschiedener sagte Florence sich, sie dürfe seine Gefühle nicht verletzen. Jetzt war er unter ihrer Zunge, preßte sie ans Gaumendach, dann war er darüber, drückte sie nach unten, gleich darauf umspielte er die Ränder und wan-derte rundherum, als schürzte er einen Knoten. Er wollte ihrer Zunge eigene Regungen entlocken, sie zu einem widerlichen stummen Duett verführen, aber Florence trat lieber den Rückzug an, um ihre Kräfte darauf zu konzentrieren, nicht gegen ihn anzukämpfen, nicht zu ersticken, nicht in Panik zu geraten. Wenn sie sich in seinen Mund erbrach - so eine ihrer wahnwitzigen Phantasien -, wäre es aus mit der Ehe, und sie müßte nach Hause zurückfahren und sich ihren Eltern erklären. Dabei wußte sie, daß dieses Gezüngel, dieses Eindringen, bloß ein
    Vorgeplänkel war, ein Sinnbild dessen, was noch kommen sollte, wie ein Prolog auf dem Theater, der ankündigte, was einem bevorstand.
    Während Florence der Form halber ihre Hände auf Edwards Hüften ruhen ließ und hoffte, dieser Augenblick werde möglichst rasch vorübergehen, dämmerte ihr eine banale Erkenntnis, die plötzlich so elementar und unumstößlich schien wie das Jus primae noctis oder irgendwelche Steuerabgaben, zu selbstverständlich, um einer Erklärung zu bedürfen. Eben dies
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