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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Autoren: Harry Kemelman
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Boston geht. Sie brauchen keine Angst zu haben; schlimmstenfalls knallt er Ihnen die Tür vor der Nase zu.» Zu dem Beamten gewandt, fuhr er fort: «Sie bleiben im Wagen, falls nichts Außergewöhnliches geschieht.»
    «Zum Beispiel?»
    «Zum Beispiel, falls er sich nicht so benimmt wie jemand, den man nach dem Weg fragt … Wir bleiben dicht hinter euch, aber außer Sicht. Nur wenn Sie aussteigen, greifen wir ein. Okay?»
    «Okay.»
    Die beiden Wagen fuhren los, Madelaine Spinney und der Bostoner Polizist vorneweg, hinter ihnen Lanigan und Jennings. An Tarlow’s Point stieg die Frau aus, ging auf Beggs Haus zu und klingelte. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet.
    «Ja?»
    Sie hob den Kopf, wie es Lanigan verlangt hatte. Die beiden starrten sich an.
    «Sie …!»
    Der Polizist sprang aus dem Wagen und rannte zum Haus.
58
    Es war später Nachmittag. Miriam beobachtete besorgt ihren Mann, der im Zimmer auf und ab ging. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, schlug ein Buch auf, begann darin zu lesen, legte es aber gleich wieder weg und nahm seine Wanderung wieder auf.
    «Solltest du nicht in die Synagoge, David? Nur um zu sehen, ob alles in Ordnung ist?»
    «Nein. Ich warte, bis sich Lanigan meldet. Jemand wird schon nach dem Rechten sehen – der Kantor oder Brooks oder vielleicht Mr. Wasserman.»
    Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, griff er hastig nach dem Hörer. Die meisten Anrufe waren auch für ihn; er fasste sich so kurz wie möglich, um die Leitung für Lanigan freizuhalten. Endlich, gerade ehe es Zeit war, zum Seder in die Synagoge zu gehen, rief Lanigan an.
    Der Rabbi hörte gespannt zu, dann lächelte er. «Schön», sagte er. «Und vielen Dank, dass Sie angerufen haben.»
    «Ist alles in Ordnung?», fragte Miriam, nachdem er aufgelegt hatte. «Können wir jetzt gehen?»
    «Ja, jetzt können wir gehen.»
    Das Mädchen, das auf Jonathan aufpassen sollte, wartete schon seit einer halben Stunde, dass sie endlich gingen und sie das Fernsehgerät einschalten könnte. Miriam gab ihr noch hastig einige Anweisungen und eilte hinaus zum Wagen. Der Rabbi folgte ihr; er trug das Tonbandgerät, das er sonst zum Diktieren von Briefen benutzte. Will er Aufnahmen in der Synagoge machen?, dachte Miriam, ein wenig belustigt von diesem plötzlichen Anflug von Sentimentalität.
     
    Als sie im Tempel ankamen, herrschte noch hastiges Kommen und Gehen. Die Leute suchten ihre Plätze, begrüßten sich oder versuchten, die Tischkarten auszuwechseln, um neben ihren Freunden zu sitzen. Die Tische waren mit weißem Damast und glänzendem Silber festlich gedeckt. Die lange Haupttafel schmückte ein prächtiges Blumenarrangement. An jedem zweiten Platz stand ein Lehnstuhl mit einem Kissen, damit sich die Männer gemäß dem Ritual anlehnen konnten, und daneben ein gewöhnlicher Stuhl für die Frauen. Neben dem Gedeck des Rabbis lagen die drei mit einer Serviette zugedeckten Mazzoth und die Seder -Platte mit dem Ei, dem angebratenen Knochen, den Bitterkräutern, der Petersilie und den beiden kleinen Schalen, eine für den Meerrettich und die zweite für den Brei aus gehackten Nüssen und Äpfeln. An der Spitze der Tafel hatten die Leute bereits Platz genommen. Der Rabbi ging reihum, um jeden persönlich zu begrüßen.
    «Gut bei Stimme, Kantor?»
    «Na sicher, Rabbi.»
    Mr. Wasserman sah alt und zerbrechlich aus in dem wuchtigen Lehnstuhl, der für den Vorsitzenden der Ritualkommission bestimmt war. Er ergriff mit beiden Händen die Hand des Rabbis. «Den Seder verbringe ich eigentlich am liebsten zu Hause, aber in diesem Jahr konnten meine Kinder nicht kommen. Und von Zeit zu Zeit tut es gut, unter Menschen zu sein …»
    Gorfinkle beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Rabbi die Runde machte. Als er auf ihn zukam, stand er auf und streckte ihm betont förmlich die Hand entgegen.
    «Fährt Stu morgen wieder ins College zurück?»
    Gorfinkle zuckte die Achseln. «Er hatte es vor, aber bis jetzt hat sich Lanigan nicht gemeldet. Vielleicht ruft er heute Abend noch an.»
    «Es ist in Ordnung. Er kann fahren.»
    «Und die andern?», fragte Gorfinkle hastig.
    «Die auch.»
    Gorfinkle strahlte. Er war überwältigt. «Das ist wunderbar, Rabbi – einfach wunderbar … Ich weiß nicht, wie wir Ihnen danken sollen!»
    Der Rabbi beendete seinen Rundgang und nahm Platz. Er blickte sich in dem vollen Saal um und wartete, bis alle saßen.
    Nachdem die Kellner alle Weingläser gefüllt hatten, erhob sich der Kantor und sang mit
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