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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Autoren: Harry Kemelman
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auch nur ein Vorschlag. Wann fahren Sie wieder zurück, Rabbi?»
    «Samstagabend, gleich nach Hawdalah .»
    «Gleich nach Sabbatausgang?» Gorfinkle schien überrascht. «Stuart sagt doch …» Dann klang es wieder wie immer, jovial und selbstbewusst. «Ach, übrigens – da fällt mir gerade ein …»
    «Ja?» Endlich rückt er mit dem wahren Grund seines Anrufes heraus, dachte der Rabbi.
    «Rabbi, wenn Sie vielleicht noch Platz im Wagen haben, und wenn es Ihnen nichts ausmacht … Wissen Sie, Stuart kommt für Pessach nach Hause, er hat eine Woche Ferien …»
    «Soll ich ihn mitnehmen?»
    «Ich meine, nur, wenn es keine Umstände macht …»
    «Aber nein, Mr. Gorfinkle. Mach ich gern.»
    Kaum hatte er aufgelegt, da klopfte es an der Tür, und Morton Brooks, der Leiter der Religionsschule, stürmte herein; ein rühriger, jugendlich wirkender Mann von vierzig Jahren mit theatralischen Allüren.
    «Gott sei Dank erwisch ich Sie noch! Ich bin gleich nach dem Anruf losgerannt.»
    «Was ist denn passiert?»
    «Arlene Feldberg hat die Masern! Der Arzt hat es gestern Abend festgestellt, aber Mrs. Feldberg hat mich erst heute früh benachrichtigt.» Es klang, als spräche er von einem schweren Fall von Landesverrat.
    «Arlene Feldberg?»
    Brooks fingerte nervös an den langen Haarsträhnen, die er sorgfältig über eine kahle Stelle gekämmt hatte. «Sie kennen doch Arlene Feldberg – die Kleine aus der ersten Klasse, die am Seder- Abend die Vier Fragen auf Englisch stellen sollte …»
    «Ach so, Harry Feldbergs Tochter. Natürlich, das geht in Ordnung.» Der Rabbi war sichtlich erleichtert. Im ersten Augenblick hatte er geglaubt, der Lehrer befürchte eine Epidemie. «Da soll halt der Kleine, der den hebräischen Text liest … wie heißt er doch gleich?»
    «Geoffrey Blumenthal.»
    «Richtig. Na, dann soll eben Geoffrey Blumenthal auch die Übersetzung lesen.»
    «Unmöglich, Rabbi!»
    «Warum? Weil er nicht versteht, was er auf Hebräisch liest?»
    «Natürlich versteht er’s!», wehrte sich Brooks empört. «Aber einfach so runterlesen, ohne Proben – das geht doch nicht! Und selbst wenn wir noch Zeit hätten, es ihm einzupauken, geht’s nicht. Die Feldbergs wären tödlich beleidigt, wenn er beide Texte lesen würde. Sie würden mir das nie verzeihen; sie würden es überall rumposaunen – und sie sind doch mit den Paffs befreundet, und mit den Edelsteins, den Gorfinkles, den Epsteins und den Brennermans … mit denen sind sie sogar verwandt.»
    «Na und? Nehmen Sie das nicht ein bisschen zu ernst, Morton?»
    «Ganz und gar nicht», erwiderte der Schulleiter mit Nachdruck. «Glauben Sie mir, Rabbi – das ist meine dritte Schule; ich kenn mich da aus. Sie sollten ein bisschen hellhöriger sein für das, was sich in Ihrer Gemeinde abspielt. Sie nehmen zwar an den Vorstandssitzungen teil – schön und gut; aber die wichtigen Dinge – die werden in der Schule ausgekocht.»
    «In der Religionsschule?» Der Rabbi machte aus seiner Belustigung kein Hehl.
    «Natürlich … Schauen Sie, Rabbi: Die Hohen Feiertage sind nur einmal im Jahr. Und an den weniger bedeutenden Festtagen, wenn sie auf einen Wochentag fallen, finden sich höchstens fünfundsiebzig Menschen ein, nicht mehr als zu einem Freitagabendgottesdienst. Aber zur Schule gehen die Kinder dreimal in der Woche, und sie berichten alles brühwarm zu Hause … Sie wissen ja, wie verrückt wir Juden mit unseren Kindern sind. Die kleinste Ungerechtigkeit, und die Eltern schreien Zeter und Mordio, als wär ein Pogrom ausgebrochen.»
    Der Rabbi lächelte. «Und was gedenken Sie zu tun in dieser … eh, Krise?»
    «Das ist ja gerade das Problem. Die meisten Mitglieder halten zu Hause ihren eigenen Seder ab, also werden nur wenige Kinder aus der ersten Klasse beim Gemeinde- Seder teilnehmen. Die Paffs und die anderen einflussreichen Leute gehören zu den älteren Jahrgängen, und ihre Kinder sind zumeist in den oberen Klassen … Ich hab mir also etwas ausgedacht mit der Geschichte von den vier verschiedenen Arten von Söhnen – Sie wissen doch: der Kluge, der Böse, der Einfältige und der des Fragens Unfähige.»
    «Ich weiß», bemerkte der Rabbi trocken.
    «Also, ich hab mir überlegt, wie man das dramatisieren könnte, verstehen Sie … Sie rezitieren zum Beispiel den Anfangsabschnitt; dann gehen die Lichter aus, nur ein Scheinwerfer strahlt den Tisch in der Mitte an …» Er trippelte mit kleinen Schritten auf den Schreibtisch des Rabbi zu, während er die
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