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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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pflegte. Ob Momo schon aus der Schule zurück war? Freitags hatte sie nachmittags nur eine Stunde. Momo ähnelte meinem Mann. Abwechselnd sah sie jeweils ein paar Jahre mir und dann ihm ähnlich. Seit sie in der Mittelstufe war, kam sie mit ihrem ausgeprägten Kinn, den großen, wachen Augen und dem dunklen Teint wieder mehr nach meinem Mann.
    Ich näherte mich der Landspitze. Der Weg wurde steiler. Die Klippe lag hinter mir, und vor mir tauchte ein Wäldchen auf. Ein Pfad führte hinein.
    Wieder folgte mir jemand.
    Diesmal war es eine Frau. Ich hatte nie jemandem von diesen Präsenzen erzählt, die ich immer wieder spürte. Meinem Mann damals selbstverständlich auch nicht. An diesem Tag war die Erinnerung an ihn besonders stark. So stark wie schon lange nicht. Ich dachte an seine Heimatstadt an der Inlandsee. Es war hüglig dort. Wo die Wege über die Hügel endeten, die den Wind abhielten, roch es besonders stark nach Meer.
    Zwei Jahre vor dem Verschwinden meines Mannes - Momo war ein Jahr alt - war seine Mutter gestorben. Sein Vater lebte noch in dieser Stadt. Ich besuchte ihn nie.
    Ob mein Mann sterben wollte?
    Oder war er verschwunden, weil er leben wollte?
    Vielleicht hatte er gar nicht darüber nachgedacht, ob er leben oder sterben wollte. Die Bäume lichteten sich, der Weg wurde breiter und mündete in einen Kreisel. Es gab dort eine Endhaltestelle, an der ein Bus stand. Wohl der, der mich kurz zuvor überholt hatte. Der Fahrer war nicht da. Die Türen standen offen.
    Unvermittelt weitete sich die Aussicht. Tief unter mir lag das von Schaumkronen bedeckte Meer. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich ein paar Menschen, die einen schmalen gewundenen Pfad zu dem wellenumspülten Strand unter der Klippe hinunterstiegen. Sie wirkten nur fingergroß.
    Würde ich hinunterspringen, wäre ich sofort tot. Ich verscheuchte den Gedanken, noch ehe ich ihn zu Ende gedacht hatte. Das Wort »sofort« gab mir das Gefühl, etwas Verbotenes zu denken, oder nein, ich verspürte eher eine Art Mattigkeit oder Benommenheit, wie kurz vor einem Fieberanfall. So weit fort, dass ich mit ihm spielen konnte, war der Tod nicht. Doch richtig nah war er auch nicht.
    Unterdessen waren die beiden Kletterer, die ich beobachtet hatte, unten ankommen. Sie reckten ihre Arme in die Höhe. Ob sie sich streckten? Sie waren zu klein, als dass ich hätte erkennen können, ob es ein Ausdruck ihres Wohlbehagens war. Immerhin gaben sie ein heiteres Bild ab. Der Wind hatte die Wolken verjagt, und der Himmel war blau. »Manazuru«, sagte ich laut, und als ich eine Weile über die Klippe geschaut hatte, verspürte ich einen Anflug von Begierde.
    Es war selten, dass ich konkretes Verlangen empfand. Selten geworden.
    Bisweilen vermittelte es mir Freude, dann wieder bodenlose Einsamkeit, und manchmal war dieses Gefühl einfach so da, ohne eine bestimmte Richtung zu haben. Wie dem auch sei, es war ein Verlangen.
    Auch nachdem die Abfahrt durchgesagt worden war, blieben die Bustüren geöffnet. Ein Mann und ein Kind stiegen ein. Das Kind rannte auf die hinteren Sitze zu. Der Mann folgte ihm langsam.
    Der Bus nahm einen anderen Weg als auf der Hinfahrt. Er wurde nie ganz voll. Fahrgäste stiegen ein, aus und wieder ein. Außer mir fuhren nur der Mann und das Kind auf der hinteren Sitzreihe bis zur Endstation. Auf dem Bahnhofsvorplatz herrschte starker Verkehr. Dabei war es am Abend zuvor so ruhig gewesen.
    Der Vater nahm das Kind an die Hand, und sie stiegen aus. Nachdem sie einen Zebrastreifen überquert hatten, klopfte der Mann an die Scheibe eines parkenden Wagens. Die hintere Tür öffnete sich, und er stieg mit dem Kind auf dem Arm ein. Ob sie im Ort wohnten? Und nicht nur auf der Durchreise waren?
    Ich warf Geld in den Automaten und zog einen Fahrschein. Eigentlich hatte ich von Anfang an nicht vorgehabt, noch eine Nacht zu bleiben. Nur mal so gefragt. Die Sunas hatten heute wahrscheinlich viele Gäste, die zum Angeln kamen. Der Wind hatte sich gelegt. Ich hatte kaum den Bahnsteig betreten, als auch schon mein Zug kam.
    »Ich bin wieder da!«, rief ich.
    Momo gab einen unbestimmten Laut von sich.
    Sie war in letzter Zeit ziemlich verschlossen. Nicht direkt schlecht gelaunt, nur in diesem Alter, in dem man sich anstrengen muss, um freundlich zu sein. Wenn sie sich keine Mühe gab, wirkte sie mürrisch.
    »Ich hab dir was mitgebracht!« Als ich die eingesalzenen Tintenfischinnereien - eine Spezialität aus Odawara - auspackte, nickte sie. Vor dem Umsteigen in
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