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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges
Autoren: Julie Peters
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Reise begleiten würden. Und obwohl sie Fremde waren, fühlte Audrey sich ihnen mehr verbunden als den Menschen, die sie einundzwanzig Jahre lang aufgezogen hatten. Die sie zu dem Menschen geformt hatten, der sie jetzt war und der jetzt fortgeschickt wurde.
    Weil ich unerträglich bin.
    «Nein», antwortete sie schließlich. Kein Widerspruch, nicht mehr. Wie hatte sie getobt und widersprochen, früher. Wie hatte sie sich gewehrt gegen die Eiseskälte der Eltern, hatte sich aufgelehnt mit ihren beschränkten Mitteln. Nichts hatte geholfen, und schließlich hatte sie sich gefügt.
    Aber auch das hatte die elterliche Gleichgültigkeit nicht zu durchdringen vermocht.
    Wenn sie wenigstens wütend wären. Wenn sie mir Vorwürfe machen würden.
    Nichts. Für Eleonore und Horatio Collins gab es diese Tochter nicht mehr, und deshalb lohnte es auch gar nicht, sich ihretwegen zu grämen oder sich um ihre Zukunft Sorgen zu machen. Sie bestieg dieses Schiff nach Afrika und heiratete dort einen anständigen Mann. Damit war das Thema erledigt. Sicher würden sie nie mehr ein Wort über sie verlieren.
    «Ich werde schreiben», versprach sie. Und weil sie nicht wusste, ob sie den Vater umarmen durfte zum Abschied, blieb sie abwartend vor ihm stehen, bis er die Hand ausstreckte, seltsam unbeholfen. Mit dem anderen Arm zog er sie für einen kurzen Moment an sich, doch beide wussten, wie sehr ihm diese Geste zuwider war. Audrey schluckte. Sie roch seinen schlechten Atem und etwas anderes, leicht Ranziges, das sie nicht benennen konnte. Vielleicht das Alter.
    «Es wird Zeit, meine Liebe», zwitscherte Rose. Sie umfasste Audreys Arm und zog sie sanft zu sich, weg von den Eltern. Eine Geste, so viel freundlicher als alles, was von ihren Eltern kam.
    «Ja», sagte Audrey und blieb stehen.
    Sagt doch irgendwas. Sagt mir, dass ihr mich vermissen werdet. Sagt mir, dass ihr mich liebt.
    Aber es kam nichts dergleichen.
    Ihre Eltern waren keine Lügner.
    Sie haben mir nicht verziehen, dachte Audrey, während sie hinter Rose die Gangway hinaufging.
    Keine Tränen. Es war alles gesagt, und für Tränen war kein Platz mehr.
    Wenn Kinyua staunen wollte, besuchte er die Weißen. Der Weg dorthin war nicht weit. Seine Füße trugen ihn zu der Farm, vorbei an den langen Reihen Teepflanzen, zwischen denen sich die Frauen seines Stammes ebenso rasch fortbewegten wie die jungen Männer, die sich etwas dazuverdienten.
    Geld, damit fing es schon an. Silberrupien nannten sie ihr Geld. Silbern war an diesen Papierfetzen nichts, es stand nur darauf – behaupteten die Weißen –, und für diese Papierfetzen konnte man sich tatsächlich etwas kaufen. Kinyua hatte nicht schlecht gestaunt, als er Mr. Noori zum ersten Mal einen Papierstreifen gegeben und einen Sack Mais und einen Korb Maniok bekommen hatte.
    Und er hatte silbrige Münzen obendrauf bekommen, die erstaunlicherweise nicht so viel wert waren wie diese Papierstreifen.
    Er ließ seine Füße wandern, den Blick nach oben gerichtet, zum Himmel. Zum Gipfel des Kere-Nyaga, des strahlenden Bergs, Hort des Ngai. An diesem Morgen lag der Berg in Hochnebel gehüllt, verträumt und entrückt bot er sich den Menschen dar.
    Nicht nur die Neugier trieb Kinyua zu den Weißen. Ja, er belächelte sie gerne, weil sie rafften, was sie kriegen konnten. Weil sie riesige Häuser aus Stein bauten wie Bwana Winston, der ein Dutzend Räume ganz allein für sich hatte. Keine Ziegen oder Kühe lebten in diesem aus Stein gemauerten Haus. Nicht einmal die Boys oder der Koch schliefen darin; sie liefen abends zu den Hütten, in denen die Arbeiter mit ihren Frauen wohnten.
    Kinyua verstand diese Männer nicht. Warum lebten sie nicht im Dorfverband wie früher? Wieso waren sie mit den Frauen auf das Land des Weißen gezogen – das ihm im Übrigen gar nicht gehörte, weil er es ihnen einfach weggenommen hatte –, statt auf ihrem eigenen Grund und Boden zu bleiben?
    War es wirklich so viel leichter, sich mit Papier abspeisen zu lassen für das, was man brauchte?
    Gerne hätte Kinyua gefragt, was diese Männer tun würden, wenn sich Mr. Noori eines Tages weigerte, die Papierstreifen und Silbermünzen gegen Nahrung einzutauschen. Dazu zwang ihn doch niemand.
    Als er sich dem Haus näherte, trat gerade Bwana Winston auf die Terrasse. Er hob die Hand, und auch Kinyua hob die Hand, ganz leicht nur.
    Bwana Winston blickte ihm schweigend entgegen. Er verstand inzwischen, dass Kinyua stets zuerst sprach.
    «Die Ziegen», sagte
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