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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges
Autoren: Julie Peters
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Audrey.»
    Er klang müde. Als koste es ihn viel Kraft, mit seiner ältesten Tochter so streng ins Gericht gehen zu müssen. Oder als sei es ja doch unwichtig, denn gleichgültig, wie oft er sie zurechtwies, sie blieb doch das Kind, das ihm den meisten Kummer bereitete. Vergebene Liebesmüh, sich für sie noch einzusetzen.
    Audrey hätte sich gern hingesetzt, aber sie blieb aus Trotz stehen. Ihre Hand pochte, und sie sah winzige Punkte vor ihren Augen tanzen. Sie hatte heute noch nichts gegessen, nur die Tasse Tee hatte sie am Morgen gehabt.
    «Millie hat deiner Mutter erzählt, was passiert ist. Sie meint, du hättest es mit Absicht getan.» Endlich ließ er von den Steinen ab und hob den Kopf. «Nun? Was hast du dazu zu sagen?»
    Sie schwieg.
    «Ich habe dich etwas gefragt, Audrey.»
    Er hatte sie immer unterstützt. Immer war er stolz auf sie gewesen. Auf ihre Klugheit, ihren schnellen Verstand und ihr Interesse an allem, was über Hausfrauenaufgaben hinausging. Er hatte sie ermutigt, sich Themen zu widmen, die einem jungen Mädchen nicht angemessen waren. Hatte sie auch ermutigt, ihrem Herzen zu folgen, als sie sich das erste Mal verliebte. Immer war er für sie da gewesen – streng, aber gerecht.
    Sie hoffte so sehr, dass er endlich aufhörte, sie wie einen seiner Trilobiten zu behandeln, die er im Glaskasten aufbewahrte und nur mit äußerster Vorsicht hervorholte und nie aus der Hand gab, weil die dünnen Steinplatten zu leicht kaputtgehen konnten.
    Er schwieg mit ihr und wandte ihre einzige Waffe gegen sie. Das Schweigen war ihr zur zweiten Natur geworden, aber er hatte Zeit. Nur die Standuhr in der Zimmerecke tickte. Schließlich beugte sich ihr Vater erneut über die Trilobitensammlung, und er flüsterte zufrieden und strich mit dem Finger über ein perfektes Exemplar ohne Absplitterungen und Brüche.
    «Ich habe mir die Hand verbrüht», sagte sie plötzlich. «Es war ein Versehen.»
    «Ein Versehen, hm. Millie hat deiner Mutter erzählt, du hättest die Hand an den Wasserkessel gelegt. Du wolltest dich also verbrennen.» Er schloss den Kasten und stand auf, um ihn zurück in die Vitrine zu den anderen zu stellen. Mit dem Rücken zu ihr fragte er: «War das genauso ein Versehen wie vor drei Tagen, als du dich in den Daumenballen geschnitten hast?»
    «Da habe ich Pflaumen entkernt.» Aber ihr Widerspruch war schwach. Sie wusste schon, was er als Nächstes sagen würde.
    «Und das blutige Handgelenk letzte Woche?»
    Unwillkürlich rieb sie sich das Handgelenk. Es war immer noch verschorft und gerötet. «Das hat so gejuckt.» Wie besessen hatte sie sich gekratzt. Wie eine Wahnsinnige. Bis der Schmerz ihr Gehirn erreichte und sie endlich, endlich darin Vergessen finden konnte …
    Sie musste besser aufpassen. Inzwischen wussten alle im Haus davon, und man ließ sie selten unbeaufsichtigt. Wenn sie sich wieder Schmerzen zufügte, um endlich diesen anderen Schmerz tief in ihrer Seele zurückzudrängen, dann schauten die anderen sie mitleidig an. Aber hinter diesem Mitleid lauerte etwas anderes – die Angst, sie könnte vielleicht wirklich verrückt werden. Die Befürchtung, dass sie an den Ereignissen des vergangenen Sommers zerbrach.
    «Nun, du hättest bei einem Ausschlag auch Dr. Wilken aufsuchen können, statt dir die Haut bis auf die Knochen aufzukratzen. Er hätte dir eine Salbe verschrieben.»
    Sie wollte widersprechen.
    Doch ihr Vater hob die Hand. Er wollte nichts hören.
    «Es muss sich etwas ändern, Audrey. So geht es nicht weiter.»
    Er setzte sich wieder hinter den Tisch. Legte den Füllfederhalter auf den Papierbogen, auf dem er seine Predigt schrieb. Sie mochte die Ordnung der Dinge in seinem Arbeitszimmer. Ordnung war so tröstlich. Sie selbst war so unfähig, Ordnung zu halten. Vielleicht deswegen.
    «Deine Mutter und ich sind uns einig, dass du nicht ewig in deinem Zimmer hocken kannst. Oder bei uns im Haus bleiben.» Er blinzelte. Sie spürte, dass er nach den richtigen Worten suchte. Nicht zu streng, aber auch nicht zu nachgiebig sollten sie sein.
    Manchmal hatte sie das Gefühl, sich selbst wie aus weiter Ferne zu beobachten. Sie
sah
, was sie tat, sehr deutlich und doch waren es die Handlungen einer Fremden, eines Geists, und nicht ihre eigenen. Nichts, wofür sie die Verantwortung übernehmen musste.
    «Ihr schickt mich fort.»
    Er blickte überrascht auf.
    «Damit habe ich gerechnet», setzte sie hinzu. Irgendwas geschah gerade mit ihr. Die Worte klangen hohl, ihre Stimme seltsam
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