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Am Fuß des träumenden Berges

Am Fuß des träumenden Berges

Titel: Am Fuß des träumenden Berges
Autoren: Julie Peters
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auf.
    Alfred war schon zehn, doch er musste betreut werden wie ein Kleinkind. Er machte in die Windeln, musste gefüttert werden und durfte nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen werden, damit er nicht aus dem Bett fiel oder sich selbst in Lebensgefahr brachte.
    Die Pflegerin drehte sich um, als sie Audrey an der Tür hörte. Auch Alfred hob leicht den Kopf, und als er sie erkannte, krähte er vergnügt: «Dridri!» Er streckte ihr den Stoffhasen entgegen. «Dridri!»
    Audrey schluckte hart. «Hallo, Alfred. Emma.» Die Pflegerin nickte und tat einen Schritt zurück, als erlaubte sie Audrey damit, zu Alfred zu gehen.
    «Wie geht es ihm?», fragte sie und kam zögernd näher. Doch Alfred ging das alles nicht schnell genug. «Dridri!», schrie er, inzwischen schon fast erbost. «Dridri!!!»
    «Still!», fuhr Emma dazwischen und hob die Hand. Es war nur eine angedeutete Bewegung, aber Audrey hatte es gesehen, und Alfred ebenfalls. Er duckte sich, hielt den Stoffhasen vor sein Gesicht und wimmerte. «Dridri», immer und immer wieder wimmerte er das, was ihm von ihrem Namen noch geblieben war.
    «Ich bin ja hier, Alfred.» Sie setzte sich auf die Bettkante, warf der Pflegerin einen bösen Blick zu, nahm seine Hand und zog sie sanft von seinem Gesicht, bis sie zwischen den Hasenohren seine großen, grauen Augen sah. «Schau, ich bin bei dir.»
    «Entschuldigung», stotterte Emma. Sie war ans Fußende des Betts zurückgewichen und hielt sich am Bettpfosten fest. «Ich wollte nicht …»
    «Schon gut», sagte Audrey leise. «Sie schlagen ihn nicht.» Es war keine Feststellung, eher ein Befehl. Sie hatte schon lange vermutet, dass der Pflegerin hin und wieder die Hand ausrutschte, wenn Alfred für sie zu anstrengend wurde. Seine Pflege verlangte ihr rund um die Uhr alles ab.
    «Niemals», beteuerte Emma.
    Sie senkte nicht den Blick, sondern reckte trotzig das Kinn. Natürlich. Von Audrey würde sie sich nicht sagen lassen, wie sie mit Alfred umzugehen hatte.
    Sie wandte sich wieder ihrem jüngeren Bruder zu. Er strahlte, als sie ihr Gesicht hinter dem Stoffhasen versteckte und dahinter hervorlugte. «Kuckuck!», rief sie, und er lachte ausgelassen.
    «Eigentlich sollte Fred gerade seinen Mittagsschlaf machen», bemerkte Emma.
    «Morgens um elf?»
    «Er wird schnell müde», verteidigte sich die Pflegerin.
    Auf Audrey machte Alfred einen recht munteren Eindruck.
    «Gehen Sie ruhig. Gönnen Sie sich eine Pause. Ich bin sicher, Millie hat Tee und Kekse unten in der Küche.»
    Sie versuchte, der jungen Frau nicht böse zu sein, weil sie versuchte, sich die Arbeit so leicht wie möglich zu machen. Alfred konnte schwierig sein, er tobte manchmal aus unerfindlichen Gründen oder weinte die ganze Nacht. Doch Emma wurde dafür bezahlt, dass sie sich um ihn kümmerte. Und sie wurde gut bezahlt.
    Emma zögerte kurz und gab dann nach. «Bin gleich wieder da.»
    «Lassen Sie sich Zeit. Wir verstehen uns schon. Nicht wahr, Alfred?»
    Der Kleine lachte. Sein Lachen schnitt ihr ins Herz.
    Die nächste halbe Stunde vertrieben sie sich die Zeit mit kleinen Fingerspielen. Alfred war flink, wenn er wollte, und wenn seine Muskeln sich nicht in unkontrollierten Zuckungen verhärteten, sodass man glauben musste, er bekäme keine Luft mehr, weil der kleine Körper sich so verzweifelt wand.
    «Ich hab wen gefunden, und ich glaube, der mag mich», erzählte Audrey ihrem jüngsten Bruder. «Er heißt Matthew, und er hat mich gefragt, ob ich zu ihm nach Afrika komme.»
    «Ika», wiederholte Alfred gehorsam.
    «Genau, Afrika.» Plötzlich spürte sie, wie ihr die Kehle eng wurde.
    Wenn sie zu Matthew ging, konnte sie nicht mehr stundenlang mit Alfred scherzen und ihn umsorgen. Dann wäre niemand mehr da, um mit ihm Kuckuck zu spielen oder ihm den Kummer von der Stirn zu streicheln, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden. Wenn Matthew sie wollte, käme sie vielleicht nie wieder zurück nach England.
    Das habe ich verdient, dachte sie betrübt. Ich habe es mir selbst zuzuschreiben, dass mich hier keiner will und ich in die Fremde muss, um einen Mann zu finden.
    Nach einer halben Stunde kam Emma zurück, entspannt und freundlich. Eine gute Tasse Tee und ein paar Ingwerkekse wirkten Wunder, das wusste Audrey. Sie verabschiedete sich von Alfred, der in überschwänglicher Begeisterung die Arme um sie schlang und sie kaum loslassen wollte, so als ginge sie jetzt schon ans andere Ende der Welt.
    In ihrem Schlafzimmer saß sie lange am Schreibtisch und
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