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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung
Autoren: Amelie Fried
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hatte einfach die Tatsache geleugnet, daß es ihn nicht mehr gab.
    Eines Tages stürzte sie die Kellertreppe herunter und brach sich das Bein. Es war ein komplizierter Bruch, und sie lag lange im Krankenhaus. Als sie es verließ, war sie um zehn Jahre gealtert und hatte begriffen, daß sie Witwe war. Mit der gleichen Radikalität, mit der sie vorher für meinen Vater gelebt hatte, lebte sie nun für sich. Sie verkaufte unser Haus, zog in eine Wohnung in der Stadt und tat nur noch, was ihr gefiel. Sie besuchte Vorlesungen an der Uni, belegte Meditationskurse und esoterische Seminare. Obwohl sie so beschäftigt war, behauptete sie, wir würden uns nicht genug um sie kümmern.
    Einerseits wollte sie ihre Ruhe, andererseits träumte sie von einer Großfamilie.
    Ich hatte das Gefühl, im Grunde war sie nie wirklich zufrieden.

    »Halloho, fröhliche Weihnachten!«

    Ich hörte ihre Stimme durch die geschlossene Haustüre.
    Was, zum Teufel, machte sie schon um neun Uhr morgens hier? Wir waren alle noch im Schlafanzug, ich hatte mich auf einen geruhsamen Vormittag gefreut, wollte die letzten Geschenke einpacken, mein Weihnachtsmenü vorbereiten, ein paar Anrufe machen.
    Uns zu dieser unchristlichen Stunde zu überfallen, war mal wieder typisch!
    »Juchhuu, Omi ist da«, jubelte Jonas und schoß die Treppe hinunter an die Haustür.
    »Die traut sich ja was, hier so früh anzurücken«, hörte ich Lucy auf dem Weg ins Badezimmer motzen. Dann fiel die Tür ins Schloß, der Schlüssel drehte sich.
    »Verdammt, Lucy, mach auf, ich muß pinkeln!« fluchte Friedrich.
    Seit Lucy sich Morgen für Morgen eine
    Dreiviertelstunde im Bad einschloß, kam es regelmäßig zu Streitereien.
    Wir schafften es einfach nicht, Ordnung in die Reihenfolge unserer hygienischen Verrichtungen zu bringen.
    Im Bademantel sauste Friedrich runter zum Gästeklo und lief schnurstracks Queen Mum in die Arme.
    »Morgen, Mummy, tut mir leid, daß ich dich in dem Aufzug begrüße, wir haben wohl verschlafen«
    »Schon gut, Friedrich, ich habe bereits Männer in Bademänteln gesehen«, scherzte Queen Mum.
    »Hast du mir was mitgebracht?« fragte Jonas mit Hundeblick auf die zahlreichen Tüten und Taschen, die der Taxifahrer gerade auslud.
    »Natürlich hab ich dir was mitgebracht, mein Schätzchen. Aber bis heute abend wirst du dich schon gedulden müssen«, lächelte meine Mutter und küßte ihn auf die Nase.
    »Iiih, nicht küssen«, schrie Jonas und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.
    Ich war in Windeseile in meine Kleider geschlüpft und ging nun gemessenen Schrittes die Treppe hinunter, um den Eindruck zu erwecken, ich sei schon seit Stunden wach.
    Wie sie da so im Eingang stand, jagte sie mir den vertrauten Schauder ein, eine Mischung aus Zärtlichkeit, Bewunderung, Ablehnung und Furcht. Als Kind hatte ich meine Mutter angebetet.
    Ich sitze auf dem Boden des Badezimmers, ganz versteckt unter dem Waschbecken, und sehe zu, wie sie sich zum Ausgehen fertigmacht. Ich sauge die Duftmischung aus Seife, Körpercreme, Puder und Haarspray ein und beobachte, wie sie ihre Wimpern tuscht und ihre Lippen rot bemalt. Sie trägt eine dieser Sechziger-Jahre-Beton-Frisuren, die aussehen, als wären sie in einem Stück über den Kopf gestülpt, und ich frage mich, wo sie die Frisur hinlegt, wenn sie schlafen geht. Ich verhalte mich mucksmäuschenstill und hoffe, daß sie mich nicht bemerkt. Mein Vater ruft nach ihr. » Edda, bist du soweit? « Sie klappert nervös mit ihren Pfennigabsätzen auf dem Badezimmerboden und ruft zurück:
    » Ja, ja, ich komme gleich, fahr schon mal den Wagen aus der Garage. « Ich höre das Zuschlagen der Haustüre, die Schritte meines Vaters auf dem Gartenweg und wenig später das Starten des Motors. Mit einer abschließenden Bewegung hebt meine Mutter die Betonfrisur im Nacken etwas an und stößt ein befriedigtes » So! « aus.
    In diesem Moment schieße ich aus meinem Versteck, werfe mich ihr in die Arme, will sie festhalten, einatmen, ein Teil von ihr werden.
    Ärgerlich stößt sie mich weg. » Laß das, mein Kleid! «
    Sie beugt sich herab, die roten Lippen küssen an mir vorbei, ich nehme den Duft ihres Parfüms in mich auf, der nur von dem leichten Geruch nach Zigarettenrauch gestört wird. Dann ergebe ich mich in die Einsamkeit.
    » Sei brav zu Irma « , höre ich sie sagen, und schon ist sie weg.
    Später, wenn ich Irma mit ihrem Freund knutschend vor dem Fernseher weiß, schleiche ich mich ins Badezimmer, schraube sämtliche
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