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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung
Autoren: Amelie Fried
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herein, wirft ihren Mantel nebst einem Blumenstrauß auf einen Stuhl und reißt Lucy aus ihrem Bettchen.
    » So, meine Kleine, jetzt hast du mich also zur Großmutter gemacht. So schnell wird man eine alte Frau!
    Nun ja, unsere Enkel werden uns rächen, nicht wahr? «
    Sie lacht bitter auf und legt das brüllende Neugeborene zurück. Prüfend sieht sie mich an, küßt mich flüchtig auf die Stirn.
    » Klappt’s mit dem Stillen? Du mußt unbedingt stillen, das ist wichtig für das Kind. Ich habe dich über ein fahr gestillt, weißt du das eigentlich? «
    Ich nicke stumm.
    » Dein Vater läßt dich grüßen, er hat einen wichtigen Termin. Er kommt morgen vorbei, wenn sein Zeitplan es erlaubt. «
    Sie sieht sich im Zimmer um. » Nettes Krankenhaus, wie ist das Essen? Du mußt ordentlich essen und viel trinken, damit du genug Milch hast. «
    Ich bin sprachlos. Warum ist sie so kalt, so geschäftsmäßig? Kein mütterliches: » Wie geht’s dir, mein Anna-Kind? « , keine Frage nach dem Verlauf der Geburt.

    Sie straft mich dafür, daß ich mit der Entscheidung für das Kind meinen eigenen Weg gegangen bin und ihre hochfahrenden Pläne durchkreuzt habe.
    Die Stimmung zwischen meinen Eltern und mir ist seit der Hochzeit mehr als kühl, und ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine Versöhnung. Ich hatte mir vorgestellt, die Geburt eines Kindes würde alles auslöschen, wir würden uns weinend in die Arme fallen und alles vergessen, was an Groll zwischen uns war. Statt dessen läßt mein Vater sich entschuldigen, und meine Mutter verhält sich, als hätte ich eine Blinddarmoperation hinter mir, keine Geburt.
    Nachdem sie gegangen ist, weine ich den restlichen Nachmittag, und am Abend zeigen sich die ersten Symptome der Urtikaria, die mich seither regelmäßig befällt. Manchmal reicht es sogar, daß nur die Rede von meiner Mutter ist, und der Ausschlag bricht aus.

    Ich beschloß, die Symptome zu ignorieren. Ich bemühte mich um liebevolle, positive Gedanken. Morgen war Weihnachten, ich hatte eine Familie, mit der ich feiern konnte, und zu dieser Familie gehörte auch meine Mutter.
    Andere wären froh, wenn sie noch eine Mutter hätten.
    Oder sie häufiger sehen könnten. Ich war siebenunddreißig, ich war längst selbst Mutter – wenn Lucy genauso dämlich war wie ich, würde ich bald Großmutter werden –, warum nur fühlte ich mich Queen Mum gegenüber immer wie ein kleines Mädchen, das heimlich die Zuckerdose leergefressen hat und aufs elterliche Donnerwetter wartet?
    Das Komische war, daß alle anderen Leute Queen Mum klasse fanden. Wie oft hatte ich erlebt, daß Freunde sie kennenlernten und ganz begeistert meinten: »Du hast aber eine sympathische Mutter! So temperamentvoll und aktiv!
    Ich wünschte, meine Mutter wäre auch so und würde nicht nur zu Hause rumsitzen und jammern.«
    Auch meine Kinder fuhren total auf ihre Großmutter ab.
    »Die ist viel ausgeflippter als du!« fand Lucy, und Jonas war hingerissen von ihr, weil sie mal vier Stunden hintereinander Memory mit ihm gespielt hatte. Nicht mal Friedrich war besonders genervt von ihr, er nahm sie einfach nicht ernst.
    Ich konnte niemandem erklären, was mein Problem mit ihr war. Daß ich mich erdrückt fühlte in ihrer Gegenwart.
    Daß ich das Gefühl hatte zu schrumpfen, klein und mickrig zu werden. Daß ich ständig den Zwang spürte, mich vor ihr zu rechtfertigen, und gleichzeitig Lust hatte, sie zu provozieren. Vielleicht hatte ich, weil ich selbst so früh Mutter geworden war, versäumt, mich von meiner Mutter abzunabeln. So war ich die ewige Tochter mit dem ewig schlechten Gewissen geblieben.
    Besonders schlimm war es, seit mein Vater tot war. Es war vier Jahre her, er war einfach so gestorben, ohne Vorankündigung, ohne Krankheit, ohne Grund. An dem Morgen war er zu einer Baustelle gefahren, weil es Probleme mit irgendwelchen Stahlverstrebungen gegeben hatte. Er hatte mit dem Bauleiter diskutiert, sie hatten Pläne verglichen und Materiallisten studiert. Als der Fehler gefunden war, hatte er sich fröhlich verabschiedet, war in seinen Wagen gestiegen und losgefahren. Immer geradeaus, geradeaus, bis er mit achtzig gegen eine Mauer des Rohbaues geknallt war. Die Obduktion hatte Herzversagen ergeben. Er hatte nicht geraucht, nicht getrunken und war von seiner Frau vollwertig ernährt worden.
    Meine Mutter war so unter Schock gewesen, daß sie wochenlang getan hatte, als sei nichts vorgefallen. Sie hatte weitergelebt, als wäre mein Vater noch da,
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