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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung
Autoren: Amelie Fried
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»Sonst wäre es ja auch zuviel Arbeit für den Weihnachtsmann«, meinte er verständnisvoll.
    Trotzdem hatte ich mir Lucy noch mal vorgeknöpft. Als ich an ihre Zimmertür klopfte, gab sie keine Antwort.
    Ich ging trotzdem hinein. Sie lag auf dem Bett, drehte mir demonstrativ den Rücken zu. Der Anblick ihrer Bude verlangte mir, wie immer, ein Höchstmaß an mütterlicher Toleranz ab. Sämtliche Wände waren bis auf den letzten Quadratzentimeter mit Postern tapeziert, dazwischen klebten Sinnsprüche wie »Liebe ist ein Kind der Freiheit« oder »Anarchie – jetzt oder nie!« Den Boden zierten mehrere Schichten achtlos fallengelassener Klamotten, und auf dem teuren Bücherregal aus massiver Buche tummelte sich eine krude Mischung aus Tierskeletten, Buddhafiguren, getrockneten Blumen und symbolträchtigen Fundstücken aller Art. Der gesamte Raum war mit einer ungefähr drei Monate alten Staubschicht überzogen, der einzige, durch ständigen Gebrauch staubfreie Gegenstand war die Stereoanlage.
    »Kannst du mir sagen, was mit dir los ist?« fragte ich Lucys Hinterkopf.
    »Laß mich in Ruhe.«
    »Verdammt noch mal, Lucy, es ist Weihnachten.«
    »Mir doch scheißegal. Interessiert mich nicht, der Spießerkram.«
    »Geschenke zu kriegen findest du aber nicht spießig, oder?«
    Keine Antwort.
    Ich setzte mich zu ihr aufs Bett, streichelte ihren Rücken.
    »Lucy, was immer es ist, du kannst mit mir drüber reden.«
    Sie richtete sich auf und schleuderte mir entgegen: »Es ist aber nichts!«
    Ich stand auf. Genausogut hätte ich gegen eine Wand reden können.
    »Könntest du dich nicht wenigstens mir zuliebe ein bißchen zusammenreißen?« bat ich im Rausgehen.
    »Und wieso ausgerechnet dir zuliebe?«
    Weil ich mir seit Wochen ein Bein rausreiße, um euch ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten, dachte ich. Weil ich Tag für Tag eine Menge Sachen für dich mache und nie ein Dankeschön kriege. Weil ich manchmal ganz schön wütend darüber bin, wie du mich behandelst.
    Ohne zu antworten verließ ich ihr Zimmer. Ich beschloß, mir den Abend nicht verderben zu lassen, und stürzte mich in die Zubereitung von Gänsebraten, Knödeln und Rotkraut. Queen Mum ließ es sich nicht nehmen, mir gute Ratschläge zu geben.
    »Du mußt gestoßene Wacholderbeeren dazugeben. Und in die Soße kann auch ein Spritzer Zitrone.«
    »Mummy, du bist Vegetarierin. Halt dich bitte aus meiner Gans raus!«
    Die viel zu lang gewordenen Asche ihrer Zigarette drohte, in den Rotkohl zu fallen. Schnell hielt ich einen Aschenbecher drunter.
    »Findest du das eigentlich konsequent, dich so bewußt zu ernähren und gleichzeitig zu quarzen wie ein alter Schornstein?« fragte ich gereizt.
    »Nun stell dich nicht so an, meine paar Zigaretten schaden sicher weniger als das verseuchte Fleisch, das du deiner Familie vorsetzt!«
    Aufgebracht wollte ich mich zur Wehr setzen, aber im letzten Moment gelang es mir, mich zurückzuhalten.
    Ich sagte nichts, und ein ungemütliches Schweigen ballte sich zwischen uns zusammen.
    »Wußtest du, daß Darmkrebs durch den Verzehr von zuviel tierischen Fetten ausgelöst wird?« sagte sie nach einer Weile.
    Ich sah sie an. »Wollen wir diese Diskussion wirklich schon wieder führen, Mummy? Ich wollte damit nur sagen, daß mich der Rauch stört.«
    »Mich stört auch vieles, aber ich übe mich in Toleranz«, sagte sie schmallippig und verschwand Richtung Wohnzimmer, wo der Rest der Familie vor der Glotze hing und die Zeit bis zur Bescherung mit »Ferien auf dem Immenhof« totschlug. Es war beruhigend, daß die Schmonzetten aus meiner Kindheit immer noch gezeigt wurden.
    Für einen Moment erlag ich der Illusion, daß diese Kindheit solange noch nicht vorbei war.
    Dann war es soweit. Ich hatte die Tür zum Wohnzimmer von innen abgeschlossen, damit keiner vorzeitig reinstürmte. Der Raum war geschmückt, die Geschenke aufgebaut, die Kerzen am Christbaum brannten. Ich hatte das Weihnachtsoratorium aufgelegt und die Fotokamera mit Blitz bereitgelegt. Vorsichtig bewegte ich das kleine Glasglöckchen hin und her, das einen so wunderbar feinen Ton von sich gab und das Mummy schon für mich geläutet hatte, als ich noch ein Kind war.
    Ich öffnete die Tür und nahm meine Familie in Empfang.
    Mit hochroten Bäckchen sprang Jonas ins Zimmer, gefolgt von Lucy, die mit Absicht ihre abgerissensten Klamotten angezogen hatte, um ihren Protest gegen diese Spießerveranstaltung zum Ausdruck zu bringen. Mit muffiger Miene latschte sie hinter ihrem
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