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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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ein.
     
     
     
     

Zweites Kapitel
     
     
    »Haben Sie einen Atemregler?« lautete die Schlagzeile des Leitartikels in den Diving News. Michael Ochajon betrachtete die Zeitschrift und lächelte. Nein, er hatte keinen Atemregler und würde nie einen haben. Er hatte nicht die Absicht zu tauchen.
    Ochajon war Oberinspektor, Chef der Kriminalpolizei von Jerusalem. Er befand sich zwar im Tauchclub von Eilat, aber »nur in meiner Funktion als Vater«, wie er drohend zu seinem Jugendfreund Usi Rimon sagte, dem Chef des Tauchclubs, der versuchte, ihn zur Teilnahme an einem Kurs zu überreden. »Wasser existiert, damit man es trinkt, sich damit wäscht oder – allenfalls – darin schwimmt. Ich bin Jerusalemer, oder nicht?« Er betrachtete die blauen Tiefen mit Schaudern.
    »Ich habe ganz andere Sachen über dich gehört«, sagte Usi grinsend. »Keiner hat mir gesagt, daß du so ein Angsthase geworden bist.«
    »Was hat man dir denn gesagt? Und wer hat dir was gesagt?« Michael lächelte verlegen.
    »Oho! Frag lieber nicht. Man sagt, daß seit deiner Scheidung alle Ehemänner ihre Frauen zu Hause einsperren. Ich habe auch gehört, daß sogar hartgesottene Polizeioffiziere anfangen zu zittern, wenn du eine Ermittlung leitest. Es heißt, daß du zäh bist. Schade, daß nicht irgendeine Dame hier sieht, was du wirklich bist – Angsthase.«
    Und tatsächlich, nur wer diesen hochgewachsenen Mann, dessen hervorstehende Backenknochen den dunklen, tiefen Augen einen traurigen Ausdruck verliehen, der viele Herzen zum Schmelzen gebracht hatte – nur wer diesen Mann wirklich sehr gut kannte, wußte von seinen Ängsten. Die anderen, Polizisten, zufällige Bekannte, Untergebene und Vorgesetzte, hielten Ochajon für stark, klug, kultiviert, einen Frauenheld, dessen Ruf die Frauen in Scharen anzog, noch bevor sie ihn gesehen hatten. Und sogar erfahrene Polizisten wurden blaß, wenn sie sich die Tonbänder mit seinen Verhören anhörten, obwohl er Verdächtigen gegenüber nie körperliche Gewalt anwendete. Die Loyalität derjenigen, die zu seinem Mitarbeiterstab gehörten, die entspannte Atmosphäre ließen sich auf seine Höflichkeit zurückführen, auf die Achtung, mit der er jeden Menschen behandelte, auf seinen Mangel an Hochmut und auf die Bescheidenheit, die er ausstrahlte. Seine engsten Freunde behaupteten sogar, gerade diese Bescheidenheit sei die Ursache für seinen raschen Aufstieg bei der Polizei.
    Auch Usi ergab sich nun dem scheuen, verlegenen Lächeln, das Michaels Gesicht aufhellte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Und wer hat schon mal was von einer marokkanischen ›jiddischen Mamme‹ gehört?«
    Michaels geheime Ängste, eine nie versiegende Quelle des Vergnügens für diejenigen, die ihm nahestanden, drehten sich vor allem um seinen einzigen Sohn.
    Noch als Juval ein Baby war, war seinem Vater bereits klar, daß dieser Junge irgendwann einmal allein in die Ferien fahren würde, ein Moped haben, von einem Motorrad träumen, in die Armee eintreten würde. In den ersten Nächten, nachdem Nira mit Juval aus dem Krankenhaus gekommen war, konnte er nicht einschlafen, weil er Angst hatte, das Baby könne aufhören zu atmen. Als Juval ein Jahr alt war, machte bereits die Geschichte von dem marokkanischen Vater die Runde, der sich wie ein Pole verhielt, wie ein Überlebender des Holocaust. »Wir haben die Rollen getauscht«, erklärte Nira mit kaltem Spott ihren Freunden. »Es wäre logisch, wenn ich mich so benehmen würde. Aber er – was für einen Grund hat er?«
    Für Michael Ochajon war es kein Problem, nachts aufzustehen, wenn das Baby schrie, und seine Windeln zu wechseln war für ihn sogar eine ausgesprochen angenehme Aufgabe. Und wenn sich Nira früher, als sie noch verheiratet waren, über Juvals emotionale Ansprüche beschwerte, so konnte er dies nie nachempfinden. Ganz besonders schwer fiel es ihm, die ersten Schritte seines Sohnes in die Selbständigkeit zu beobachten, er wurde ständig von dem Bewußtsein gequält, daß das Leben in der Tat an einem seidenen Faden hing und wie gering seine Möglichkeiten waren, den Jungen vor allen äußeren Gefahren zu bewahren und sein Leben und seine Gesundheit zu schützen.
    Nie hatte er seine Ängste Juval gegenüber geäußert, und der Junge begann schon zwei Monate nach seiner Einschulung, trotz des dichten Verkehrs auf der Gazastraße allein zur Schule zu gehen. Er trat den Pfadfindern bei, ohne zu wissen, in welchen Zustand sein Vater jedesmal geriet, wenn

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