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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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Michael Schorr gegenüber später als einen »gefährlichen Blick« bezeichnete.
    »Das ist es, was ich wirklich denke. Ohne Beziehung zu Nietzsche«, sagte Michael und fragte sich, ob der Mann ihm gegenüber vorhabe, sich auf ihn zu stürzen.
    Aber Tuwja Schaj bewegte sich nicht, er blickte Michael ruhig an. »Das ist eine sehr naive Sicht der Dinge. Ich bin ganz anderer Ansicht. Ich glaube nicht, daß Sie Nietzsche verstanden haben, auch andere Werke haben Sie nicht verstanden. Aber das war nicht schlecht für jemanden, der bei der Polizei arbeitet.«
    Es gab Dinge, über die Michael später nie mit jemandem sprach, auch nicht mit Schorr. Viele Tage lang dachte er immer wieder an das, was Tuwja Schaj gesagt hatte. Und jedesmal stellte er sich wieder die gleiche Frage: War etwas dran an seinen Worten? Wer von ihnen beiden hatte recht, fragte er sich, ohne zu einer Antwort zu gelangen. Eines wußte er jedoch schon während des Verhörs genau: Das, was Tuwja Schaj sagte, war nicht verrückt. Obwohl er von dem, was er zu Tuwja Schaj sagte, überzeugt war, wußte er, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, daß es in der Realität, in der Geschichte, Dinge gegeben hatte, die Tuwjas Standpunkt rechtfertigten. Auch später konnte er keine klaren Schlüsse ziehen.
    »Ich weiß, daß Sie anderer Meinung sind«, sagte Michael Ochajon, »und ich weiß, daß Sie von uns beiden derjenige sind, der etwas von Ästhetik versteht.«
    »Es ist nicht nur eine Frage der Ästhetik und der Ethik. Es ist eine Frage, was ich bereit bin, für eine Sache zu tun, die mir wichtig ist, und was Sie bereit sind zu tun. Sie arbeiten hier«, Tuwja Schaj machte eine Armbewegung, die das ganze Zimmer einschloß, »und Sie leben hier Ihr kleines Leben und glauben, daß Sie etwas verändern. Ich hingegen wäre bereit, mein ganzes Leben hinzugeben, mich zu Staub zu machen für das, was mir wichtig ist.«
    »Es ist aber eine Tatsache, daß Sie sich nicht beherrschen konnten.« Michael versuchte, das Gespräch auf die Mordszene zurückzubringen.
    »Es ist nicht so, daß ich mich nicht beherrschen konnte.« Tuwja Schaj tappte so schnell in die Falle, daß Michael begriff, wie groß sein Bedürfnis zu sprechen war, nun, nachdem die Mauer des Schweigens gefallen war. »Wenn Scha'ul bereit gewesen wäre, der Wahrheit zuliebe die Strafe auf sich zu nehmen«, sagte Tuwja Schaj, »wenn er verstanden hätte, wovon ich sprach, hätte ich ihn in Ruhe gelassen. Aber er hat gelacht. Ich habe ihm die Dinge erklärt, und er hat gelacht. Als ich ihm die Kassette vorspielte, die Ido mitgebracht hatte, hörte er auf zu lachen. Er hatte einen Kassettenrecorder im Zimmer, er hat manchmal seine Vorträge aufgenommen. Ich spielte ihm vor, wie Boris Singer seine Gedichte las, und da lachte er schon nicht mehr. Aber er hatte einen Ausdruck im Gesicht, so etwas vorsichtig Verschlagenes, wie er ihn manchmal hatte, wenn er es auf eine Frau abgesehen hatte. Er sagte: ›Tuwja, du warst immer verrückt. Nicht alle wissen es, aber ich weiß, daß du verrückt bist. Nichts ist so wichtig, daß es meine Zerstörung rechtfertigen würde. Ich habe gedacht, daß du mich liebst.‹ Das hat er gesagt. Und da habe ich kapiert, daß auch er nichts versteht und daß er glaubt, ich liebe ihn persönlich, wegen irgend etwas. Ich sagte ihm ausdrücklich: ›Nichts wird mich zurückhalten, dich bloßzustellen, aber ich will, daß du anerkennst, daß die Kunst größer ist als wir beide, und daß die Wahrheit größer ist als wir beide. Ich will, daß du das von dir aus zugibst. Dich habe ich nicht geliebt. Du bist nicht wichtiger als andere.‹ Und dann hat er mich sehr ernst angeschaut und gesagt: ›Ich bin nicht bereit, irgend etwas vor irgend jemandem zuzugeben, und du läßt die Kassette hier bei mir. Du wirst auch nichts aufdecken, du wirst die Sache einfach vergessen.‹ Und da habe ich die Figur genommen, schnell, bevor er verstehen konnte, was geschah. Er stand am Fenster und schaute hinaus, das war eine Pose, die er besonders liebte, und drehte mir das Gesicht zu, und dann habe ich immer wieder auf ihn eingeschlagen, weil er nicht unterscheiden konnte zwischen Wichtigem und Unwichtigem, und weil er die Kassette zerstören wollte und weil er nichts bekennen wollte.«
    »Aber das ist es, was Sie selbst auch getan haben, danach. Sie haben die Kassette zerstört, nur damit nichts rauskommt. Sie haben die Wahrheit nicht ans Licht gebracht«, sagte Michael Ochajon müde.
    »Und das ist der
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