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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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Zusammenhang ist das Gedicht gut? Das heißt, von Anfang an ist nicht die Rede vom immanenten Wert, dem ›situationsfreien Wert‹. Das gehört zu den grundlegenden Fehlern derer, die einen vollkommenen Wert in literarischen Produkten suchen. Ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, jede Sache, die Anspruch erhebt, irgendeinen Wert zu haben, müsse in einer Beziehung zu etwas anderem stehen. Die Forderung, den Wert in eine bestimmte Relation zu stellen, bedeutet keine Einschränkung. Im Gegenteil, die Beziehung ist es, die seine Existenz ermöglicht. Die Frage ›Als was ist dieses Gedicht gut?‹ bezieht sich auf Aspekte wie Genre, Gattung, kulturelle Tradition und die historische Entwicklung einer Sprache, außerdem auf den Bezug zwischen der Poesie eines Dichters zu seiner Zeit – also auf den kulturellen und historischen Kontext, in dem das Gedicht steht. Die Urteile ›gut‹ oder ›sehr gut‹ gelten für das Gedicht Zufälliger Ausflug ins Grab meines Herzens nur im Hinblick auf die Kriterien, die ich ausgewählt habe, um das Gedicht hervorzuheben. Diese Bewertung stammt also nicht aus ihm selbst, sie ist nicht durch Logik mit ihm verbunden. Das Wort ›gut‹ bezieht sich auf die äußeren Kontexte, zu denen ich das Gedicht theoretisch in Beziehung setze: Erst so entsteht eine kausale Verbindung zwischen der Beschreibung und der Beurteilung.«
    Dawidow beugte sich zu dem Fotografen, der etwas vor sich hin murmelte, und Ruchama sah das grüne Aufblitzen in den Augen Scha'ul Tiroschs, der ihren Mann ungeheuer konzentriert betrachtete, als wolle er keines seiner Worte überhören, sie sah auch das Gesicht Ido Duda'is, der unverhältnismäßig blaß war, ein Zeichen, daß er wegen seines bevorstehenden Vortrags aufgeregt war.
    Sarah Amir schien interessiert zuzuhören. Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde noch konzentrierter, als Tuwja in seinem Vortrag fortfuhr. »Deshalb«, sagte er und warf einen heimlichen Blick auf seine Uhr, »kann man meiner Meinung nach nicht über den Wert eines Werkes sprechen, weder über einen relativen noch über einen absoluten. Jedes Werk ist neu zu beurteilen, und ich habe keine Regeln für die Zukunft. Ich kann sagen, welches Werk in meinen Augen gut ist, aber ich kann nicht sagen, welches gut sein wird. Über Geschmack läßt sich streiten, über Kontexte ebenso. Mehr noch – man muß darüber streiten. Das ist alles, was man tun kann.«
    Tuwja setzte sich erschöpft auf seinen Platz, und der Schatten eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht, als er den Applaus hörte und die Worte, die Tirosch ihm ins Ohr flüsterte, während er klatschte. Dann wurde es wieder still, als Ido Duda'i aufstand, um seinen Vortrag zu halten.
    Später würde man sehen und hören können, was die Kamera festgehalten hatte: das schreckliche Zittern seiner Hände, die Schweißtropfen auf seiner Stirn, das Flattern seiner Stimme, sein Räuspern. Ruchama würde sich daran erinnern, daß er sein Glas Wasser auf einen Zug ausgetrunken hatte.
    Ido Duda'i war zwar nur Doktorand, doch seine Stellung an der Fakultät war gesichert: Tirosch sagte ihm eine glänzende Zukunft voraus. Tuwja pries seine Beharrlichkeit und seinen Fleiß, und sogar Aharonowitsch sprach – in seinem ewig klagenden Ton – voller Wärme über den »klugen Studenten, in der talmudischen Bedeutung des Wortes«.
    Dies war nicht der erste Vortrag, den er vor akademischem Publikum hielt, und Ruchama hatte an diesem Abend seine Aufregung auf die Anwesenheit der Fotografen und des Fernsehens zurückgeführt, obwohl Tuwja später, auf dem Heimweg, nachdrücklich behauptete: »Du kennst ihn nicht. Er interessiert sich nicht für solche Dinge, er ist ein ernsthafter Forscher, es ist Blödsinn, das Fernsehen als Grund anzuführen. Ich wußte von vornherein, daß es eine Katastrophe werden würde. Ich habe es gefühlt. Er ist nicht mehr derselbe Mensch, seit er aus Amerika zurückgekommen ist. Wir hätten ihm die Reise nicht erlauben dürfen. Er ist zu jung.«
    Doch Ruchama, noch immer unter dem Eindruck des Dramas, das sich im Saal abgespielt hatte, war unfähig, aus eigener Kraft die schreckliche Verwandlung zu begreifen, die mit Ido vor sich gegangen war, außer der Tatsache natürlich, daß er Tuwjas Lehrer und Meister, seinen eigenen Doktorvater, herausgefordert und somit seine sichere Stellung in der Fakultät gefährdet hatte.
    Am Anfang seines Vortrags las Ido das Gedicht eines russischen Dissidenten, dessen Werk Tirosch selbst als
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