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Am Anfang war das Wort

Am Anfang war das Wort

Titel: Am Anfang war das Wort
Autoren: Batya Gur
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fühlte, daß viele sich hartnäckig und voller Neid fragten, welche Kraft es wohl sei, die Tirosch zu ihr hinzog.
    Sie wußte selbst keine richtige Antwort darauf. Einmal sagte er zu ihr, das Farblose ihrer Persönlichkeit lasse die Farbigkeit eines anderen stärker hervortreten. Sie war nicht verletzt. Schon lange hatte sie den Verdacht, das Geheimnis ihrer Anziehungskraft sei ihre Passivität, die Tirosch als »die Möglichkeit für den, der sich in deiner unmittelbaren Nähe befindet, vor dir in voller Schärfe projiziert zu werden, wie vor einem weißen Hintergrund« bezeichnete. Auch für ihre eigenen Motive hatte sie keine Erklärung. Was verband sie mit Tuwja, was mit Tirosch, was verband sie überhaupt mit irgend jemandem, mit irgend etwas? Was war die Kraft, die sie mit einem unsichtbaren Band festhielt und zwang, weiter zu existieren? Diese Fragen blieben unbeantwortet.
    Sie war kein depressiver Mensch, sie war auch nicht gleichgültig, es fehlte ihr nur die Begeisterung, die andere besaßen. »Entfremdet« war das Wort, das die Fakultätsmitglieder wählten, wenn sie ihre Art, die Welt zu betrachten, beschreiben wollten. »Defätistisch«, hatte Tirosch einmal gesagt, als er sich bemühte, ihre Wunschlosigkeit zu interpretieren, ihre Art, von vornherein auf jedes Ziel zu verzichten.
    Erst hatte Tuwja ihrem Leben eine Richtung gegeben. Er war es, der sie ausgewählt hatte, und sie hatte sich gefügt, weil er hartnäckiger gewesen war als die anderen, die an ihrer Reserviertheit verzweifelt waren und den Kampf schließlich aufgaben. Tuwja hatte sie geführt, er hatte sie hierhergebracht, und jetzt war es Tirosch. Wenn er wolle, daß sie ihr Leben ändere, hatte sie einmal zu ihm gesagt, sei er es, der am Draht ziehen müsse. So war es bis vor zwei Monaten gewesen, bis dieser kleine Riß entstanden war.
    »Was ist los mit dir?« hatte Tirosch geantwortet, als sie ihn fragte, warum er nicht ständig mit ihr zusammensein wolle. In seiner Stimme lag ein Anflug von Erstaunen. Nie zuvor hatte Ruchama einen Wunsch oder eine Bitte geäußert.
     
    »Das vorliegende Gedicht, das eine Vision beschreibt«, hörte sie wieder Tuwjas Stimme sagen, und sie begriff überrascht, daß er zwanzig Minuten lang unaufhörlich geredet hatte, ohne daß sie auch nur ein Wort mitbekommen hatte, »ist ein hermetischer Text, im einfachsten, vielleicht ursprünglichsten Sinn des Wortes: Es ist aufgebaut wie ein Geheimtext, wie eine verborgene Schrift – wie die hermetische Literatur der ägyptischen Priester. Das Besondere an diesem Gedicht Tiroschs ist jedoch die Tatsache, daß dieser Geheimtext keineswegs ein Rezept für Unsterblichkeit skizziert, die Anweisungen zur Erschaffung eines Golems oder eine sphärische Formel. Er ist kein Schema, sondern eine Beschreibung. Mehr als das! Er ist die Beschreibung eines Blickwinkels, und der Zuhörer kann ihm folgen und das ganze Bild vor seinem geistigen Auge entstehen lassen, sich in seinem Raum und seiner Zeit bewegen, losgelöst von der Wirklichkeit, es mit Charakteren und einem Held bevölkern und es geistig und emotional und sogar gesellschaftlich und politisch erfühlen. Das Gedicht bewegt sich mit ungeheurer Spannung zwischen der Realität und der großen Sinnlichkeit des Materials einerseits und der Abstraktion und der Geistigkeit dessen, was aus ihrer Kombination entsteht, andrerseits und vor allem: zwischen dem ›Geheimnis‹ des Textes und dem ›Offenlegen‹ der Vision, die es darstellt. Der Leser befindet sich dem Gedicht gegenüber in einem Zustand ständiger Anstrengung, sein Verständnis wird permanent vervollständigt. Der Text zwingt ihn dazu, seine Beziehung zu Wörtern von Grund auf zu verändern. Und so entwickelt sich allmählich, Stufe für Stufe, das Thema: Das ist ein Gedicht über den geistigen und existentiellen Zustand der Menschheit.«
    Erstaunt stellte Ruchama fest, daß die Worte ihres Mannes über ein Gedicht Tiroschs ihr Interesse weckten, und sie erinnerte sich an eine Bemerkung Scha'uls, daß Tuwja der einzige sei, der seine Gedichte richtig interpretieren könne. Tuwja trank nun einen Schluck Wasser, und die junge Frau neben ihr bewegte die Hand, die fieberhaft jedes Wort mitgeschrieben hatte, sie setzte ihre Brille ab und putzte eifrig die Gläser, dann schrieb sie weiter, als Tuwja mit seiner Rede fortfuhr:
    »Zum Abschluß möchte ich nur noch folgendes sagen: Die Frage lautet überhaupt nicht, ob ein Gedicht gut ist, sondern: Als was und in welchem
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