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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman
Autoren: Sven Kuntze
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haben wir unseren Eltern und Großeltern zu verdanken, die nicht nur politische Lehren aus der Vergangenheit gezogen, sondern nach dem verlorenen Krieg die Ärmel hochgekrempelt und das Land wieder instand gesetzt hatten. Ihre persönlichen Ziele waren vorerst bescheiden: ein Auskommen oberhalb der Armutsgrenze, eine warme Wohnung und eine Zukunft für die Kinder, die damals noch reichlich geboren wurden. Nach der katastrophalen ersten Hälfte des Jahrhunderts war den Deutschen die Lust auf Umwälzungen und große Politik einstweilen vergangen. Bis in die sechziger Jahre wurde die eigene Vergangenheit ausgeblendet, so, als ob sie nie stattgefunden hätte. Man lebte diskret im geschichtlichen Niemandsland und in der Hoffnung, dort unentdeckt zu bleiben. Etwa zwei Jahrzehnte lang bewährte sich die kollektive Schweigsamkeit als stabiles politisches Fundament.
    Die Bundesrepublikaner wollten unauffällig verwaltet sein und führte eine fleißige, sparsame Nischenexistenz abseits der großen Ereignisse.
    Sie haben uns schließlich ein schuldenfreies Land hinterlassen, mit wiederaufgebauten Städten, modernen Industrieanlagen, neuen Schulen, Schwimmbädern und Sportanlagen. Aus ihren Reihen sind bedeutende Schriftsteller, Musiker, Philosophen und Wissenschaftler beiderlei Geschlechts hervorgegangen. Die Politiker dieser Generation haben das Land meist mit sicherer Hand und nach klaren Maßstäben regiert.
    Das war ein stattliches Erbe. Wir haben den materiellen Teil ohne ein Gefühl der Dankbarkeit entgegengenommen und den Rest entsorgt. Uns war die heilige Scheu vor der Zukunft abhanden gekommen, die unseren Eltern und Großeltern und deren Eltern noch selbstverständlich gewesen war. Die hatten zwar in ihrer eigenen Gegenwart oft heillos gehaust, waren aber trotzdem bemüht gewesen, ihren Kindern eine intakte Nachwelt zu hinterlassen, in der sie eine Chance auf Zukunft haben würden. Es blieb zwar stets Menschenwerk, unvollständig und fehlerhaft, aber es war immer eine bedeutsame Leitplanke in ihrem Leben gewesen. Ich erinnere mich sehr genau an das ernst gemeinte Motiv meiner Jugendzeit, dass es den Kindern »einmal besser gehen« solle. Unsere Vorfahren fühlten sich diesem Maßstab verpflichtet und haben ihn für meine Generation in nie gekanntem Ausmaß in die Tat umgesetzt. Meiner Alterskohorte geht es deswegen besser als je einer zuvor in der langen Geschichte der Menschheit.
    Heute jedoch würde keiner ernsthaft mehr behaupten wollen oder fordern, den Kindern müsse es besser gehen. In obszöner Offenheit und ohne Bedauern stellen wir fest, dass es ihnen, im Gegenteil, schlechter gehen wird. Sie werden alle Hände voll zu tun haben mit unseren Hinterlassenschaften. Auf einen ähnlich bequemen Lebensabend werden sie später keinen Anspruch mehr haben können. Und wir? Wir retten uns in den Augenblick, indem wir bei vollem Bewusstsein die Zukunft verzehren. Diesen Kannibalismus halten wir für verantwortungsvolle Politik, weil sie uns eine sorgenlose Gegenwart genießen lässt. Tatsache ist jedoch: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt und Ressourcen verzehrt, die, recht besehen, unseren Nachkommen gehören.
    Was aber hat die »Vierziger« im Lauf ihrer langen Leben zu einer Alterskohorte mit identischen Werten, gemeinsamem Zeitgeist und kollektiven Erfahrungen gemacht?
    Der Stoff, aus dem identisches Selbstbewusstsein über alle Grenzen entsteht, sind gemeinsame Idole. Für meine Generation waren es zwei junge Schauspieler aus den Vereinigten Staaten, die als »Rebellen ohne Anlass« ein Männerbild verkörperten, das radikal mit dem Ideal des wohlerzogenen, karriereorientierten Amerikaners brach und mit atemberaubender Geschwindigkeit weltweit zum Vorbild wurde. Bis dahin waren Jugendlichein Filmen entweder Cheerleader, gut gebaute Athleten oder fleißige Studenten gewesen. Ihre Konflikte beschränkten sich auf umständliche Annäherungsversuche an das andere Geschlecht und die stets schwierige Wahl zwischen Pflicht und Vergnügen.
    Vorerst unbemerkt verschob sich nach und nach das Selbstverständnis der Jugend, wie der Bühnenautor Rod Serling beobachtete: »Das Vertrauen in die Eltern, ihre sogenannten ewigen Wahrheiten, die ganze Litanei moralischer Vorschriften verloren an Bedeutung. Es brauchte nur noch Typen, die diesen Prozess überzeugend verkörpern konnten.« Mit Marlon Brando aus Omaha/Nebraska und James Dean aus Marion/Indiana war die Suche beendet. Das waren junge Schauspieler von roher
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