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Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)

Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)

Titel: Alter König Neuer König - Seelenweishheit im Märchen (German Edition)
Autoren: Claus Riemann
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ewig leiden.«
     
    »Danke mir nicht, Kobra«, wehrte König Dschaswant ab. »Ich half dir gern in deinem Unglück. Ich würde dir auch jederzeit wieder helfen.«
     
    Die Kobra erwiderte: »Ich möchte mich gern erkenntlich zeigen. Könnte ich dir behilflich sein?«
     
    »Ich selbst brauche keine Hilfe«, antwortete König Dschaswant, »doch vielleicht könntest du einem Jüngling helfen, der nach dem Beschluss des Schicksals sterben musste. Ich wollte ihn zu neuem Leben erwecken und seiner Braut und den Eltern zurückgeben.«
     
    Die Kobra schaute den König an und sprach zu ihm: »Komm mit in meine Höhle, dort werde ich dir etwas geben.« Dann schlängelte sie vor dem König her noch tiefer in den Wald hinein. Als sie die Höhle erreicht hatten, forderte die Kobra den König auf, ein Weilchen zu warten. Dann kroch sie in ihre Behausung und kehrte gleich darauf mit einem tönernen Fläschchen zurück.
     
    »Nimm dieses Fläschchen, König Dschaswant«, sprach sie zu ihm. »Es enthält den Nektar des Schlangenkönigs, den einst mein Urgroßvater vom König aller Schlangen, Drachen und Eidechsen für seine Dienste erhielt. Träufelst du dem Toten nur einige Tropfen davon auf die Lippen, dann erwacht er im gleichen Augenblick zu neuem Leben.«
     
    König Dschaswant nahm das Fläschchen dankbar entgegen, verabschiedete sich von der Kobra und eilte in seinen Palast zurück. Im Kellergewölbe tröpfelte er dann einige Tropfen des Schlangennektars auf die Lippen des leblosen Jünglings. Im selben Augenblick erbebte der Sohn des Dorfältesten, öffnete seine Augen und sprach mit leiser Stimme: »Wo bin ich? Was ist mit mir geschehen?«
     
    »Nun ist alles wieder gut, du lebst wieder«, erwiderte König Dschaswant froh. Die Schicksalsgöttin Widhatri erschien vor dem König und sprach: »König Dschaswant, du hast das Schicksal besiegt! Das gelang bisher noch keinem Sterblichen, du mutiger und ausdauernder König! Dein Leben möge lang und glücklich sein, denn nur jener, der sich nicht dem Schicksal beugt, sondern ihm trotzt, ist es wert, auf dieser Welt zu leben.« Damit verschwand sie wieder.
     
    König Dschaswant aber ritt mit dem Jüngling in sein Heimatdorf zu Braut und Eltern, und nun konnte die Hochzeit doch noch glücklich zu Ende gefeiert werden. Und es war eine so fröhliche und prächtige Hochzeit, dass man noch lange Jahre in ganz Gutscharat davon erzählte. (MÄRCHEN AUS INDIEN)
     
4.7.1. Überlegungen zum Märchen
     
    Obwohl auch König Dschaswant ohne Königin lebt, scheint sein Kontakt zur Welt des Weiblichen intakt. Er ist ein mitfühlender König, der sich um das Wohl der einfachen Leute sorgt, er hat mütterliche Qualitäten, denn wo er Armut oder Unglück antrifft, bemüht er sich stets zu helfen. Er bleibt nicht nur in seinem Schloss, sondern er geht auch »auf die Dörfer«, kümmert sich also auch um die abgelegenen Bereiche seiner psychischen Landkarte.
     
    Und dort, weit weg von der Hauptstadt, wird der Sohn geboren. Man könnte an die Stallgeburt Christi denken: Der Gott des neuen Zeitalters wird in einer entfernten Ecke der Kollektivpsyche geboren. Neue Entwicklungsimpulse kommen – kollektiv wie individuell – in der Regel aus bisher wenig beachteten Bereichen der Psyche. Deswegen ist es ratsam, immer wieder »auf die Dörfer« zu gehen und dort nach neuen Impulsen, ungelebten Potenzialen Ausschau zu halten, wie Dschaswant das tut!
     
    Dieser König scheint auch keinen Wert auf die »Persona« zu legen, in einfachen Kleidern mischt er sich unters Volk. »Wenn du auf dem Weg des Wissens bist, musst du dich unerreichbar machen!«, sagt der Schamane Don Juan. In Kleidern des Königs ist man Gefangener einer Rolle, als »Niemand« ist man frei.
     
    Eine weitere »Heldentat« des Königs ist es, nachts wach zu bleiben. Er hat also einen guten Draht zum Unbewussten, und so erfährt er von dem Schicksalsspruch der Göttin. Auch in diesem Märchen ist also das Heldenkind, der neue Entwicklungsimpuls, bedroht, aber der König weiß dank des Orakels der Göttin von der Bedrohung.
     
    Jeder Mensch wächst – auf jeweils unterschiedliche Weise – mit einem schicksalhaften Orakel aus der Kindheit auf. Dieses Orakel lässt sich aus dem psychischen Erbe der Ahnengalerie erklären. Wenn ein Mensch von diesem Orakel weiß, ist es nur natürlich, ihm entgehen zu wollen. Auch König Dschaswant sagt ja: »Wenn ich es vorher weiß, muss ich alles tun, um dieses furchtbare Schicksal zu
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