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Alte Meister: Komödie (German Edition)

Alte Meister: Komödie (German Edition)

Titel: Alte Meister: Komödie (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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richtig ist, von Reger als von einem Genie zu sprechen, ein wissenschaftliches Genie, ja sogar ein menschliches Genie , dachte ich, ist Reger sicher. Genie und Österreich vertragen sich nicht, sagte ich. In Österreich muß man die Mittelmäßigkeit sein, um zu Wort zu kommen und ernst genommen zu werden, ein Mann der Stümperhaftigkeit und der provinziellen Verlogenheit, ein Mann mit einem absoluten Kleinstaatenkopf. Ein Genie oder ja schon ein außerordentlicher Geist wird hier auf entwürdigende Weise über kurz oder lang umgebracht , sagte ich zu Irrsigler. Nur Leute wie Reger, die man an einer einzigen Handabzählen kann in diesem fürchterlichen Land, überstehen diesen Zustand der Herabsetzung und des Hasses, der Unterdrückung und der Ignoration, der allgemeinen geistesfeindlichen Gemeinheit, der hier in Österreich überall herrscht, nur Leute wie Reger, die einen großartigen Charakter haben und tatsächlich einen scharfen unbestechlichen Verstand. Obwohl Herr Reger zur Direktorin dieses Museums eine nicht unglückliche Beziehung hat und obwohl er diese Direktorin gut kennt, sagte ich zu Irrsigler, wäre es ihm niemals im Traum eingefallen, diese Direktorin um irgend etwas ihn und dieses Museum Betreffendes zu bitten. Gerade als Herr Reger die Absicht gehabt hat, der Direktion und das heißt, der Direktorin den schlechten Zustand der Sitzbanküberzüge in den Sälen mitzuteilen und sie möglicherweise zu veranlassen, neue Sitzbankbezüge herstellen zu lassen, wurden die Sitzbänke neu überzogen; und durchaus geschmackvoll, sagte ich zu Irrsigler. Ich glaube nicht, sagte ich zu Irrsigler, daß die Direktion des Kunsthistorischen Museums davon Kenntnis hat, daß Herr Reger seit mehr als dreißig Jahren jeden zweiten Tag hier in das Museum hereinkommt, um auf der Sitzbank im Bordone-Saal Platz zu nehmen, das glaube ich nicht. Das wäre ja auch sicher bei irgendeinem der Zusammentreffen Regers mit der Direktorin zur Sprache gekommen, soviel ich weiß, weiß die Direktorin nichts davon, weil Herr Reger nie davon gesprochen hat und weil Sie, Herr Irrsigler, immer darüber geschwiegen haben, weil es der Wunsch Herrn Regers ist, daß Sie über die Tatsache, daß Reger seit über dreißig Jahren jeden zweiten Tag außer Montag das Kunsthistorische Museum aufsucht, schweigen. Verschwiegenheit, das ist Ihre große Stärke, habe ich zu Irrsigler gesagt, dachte ich, während ich Reger betrachtete, der den Weißbärtigen Mann von Tintoretto betrachtete, der seinerseits wieder von Irrsigler in Augenschein genommen wurde. Reger ist ein außergewöhnlicher Mensch und mit außergewöhnlichen Menschen müsse man behutsam umgehen, habe ichgestern zu Irrsigler gesagt. Daß wir, nämlich Reger und ich, gleich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen das Museum aufsuchten, sei undenkbar, habe ich gestern zu Irrsigler gesagt und habe es doch ausgerechnet heute, weil Reger das ebenso ausgerechnet wünschte, wieder aufgesucht, aus was für einem Grund Reger heute da ist, weiß ich nicht, dachte ich, ich werde es bald wissen. Irrsigler war auch ganz erstaunt gewesen, als er mich heute sah, denn ich hatte ja erst gestern zu ihm gesagt, daß es ausgeschlossen sei, daß ich einmal gleich zwei Tage hintereinander in das Kunsthistorische Museum gehen werde, so wie es für Reger bis jetzt ausgeschlossen gewesen ist. Und jetzt sind wir beide, Reger wie ich, heute wieder im Kunsthistorischen Museum, in dem wir erst gestern gewesen waren. Das mußte Irrsigler irritiert haben, dachte ich, denke ich. Daß es möglich ist, sich einmal zu irren und also gleich am nächsten Tag wieder ins Kunsthistorische Museum zu gehen, dachte ich, aber, überlegte ich, doch nur, daß sich Reger allein irrt oder daß ich allein mich in dieser Tatsache irre, aber doch nicht, daß wir beide, Reger und ich , in dieser Tatsache irren. Reger hat gestern ausdrücklich zu mir gesagt, kommen Siemorgen hierher , ich höre ja noch, wie das Reger sagt. Aber Irrsigler hat natürlich davon nichts gehört und wußte davon nichts und hat sich naturgemäß gewundert, daß Reger und ich heute schon wieder im Museum sind. Hätte Reger gestern zu mir nicht gesagt, kommen Sie morgen hierher, ich wäre heute nicht ins Kunsthistorische Museum gegangen, möglicherweise erst in der kommenden Woche, denn zum Unterschied von Reger, der tatsächlich jeden zweiten Tag ins Kunsthistorische Museum geht und das seit Jahrzehnten, gehe ich nicht jeden zweiten Tag ins Kunsthistorische Museum,
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