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Alte Meister: Komödie (German Edition)

Alte Meister: Komödie (German Edition)

Titel: Alte Meister: Komödie (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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talentierten Umblätterers, also eines Mannes, der lieber umblättert, als liest, der also Dutzende, unter Umständen Hunderte von Seiten umblättert, bevor er eine einzige liest; aber wenn der Mann eine Seite liest, so liest er sie so gründlich, wie keiner und mit der größten Leseleidenschaft, die sich denken läßt. Ich bin mehr Umblätterer als Leser, müssen Sie wissen, und ich liebe das Umblättern genauso wie das Lesen, ich habe in meinem Leben millionenmal mehr umgeblättert, als gelesen, aber am Umblättern immer wenigstens so viel Freude und tatsächliche Geisteslust gehabt, wie am Lesen. Es ist doch besser, wir lesen alles in allem nur drei Seiten eines Vierhundertseitenbuches tausendmal gründlicher als der normale Leser, der alles, aber nicht eine einzige Seite gründlich liest, sagte er. Es ist besser, zwölf Zeilen eines Buches mit höchster Intensität zu lesen und also zur Gänze zu durchdringen, wie gesagt werden kann, als wirlesen das ganze Buch wie der normale Leser , der am Ende das von ihm gelesene Buch genauso wenig kennt, wie ein Flugreisender die Landschaft, die er überfliegt. Er nimmt ja nicht einmal die Konturen wahr. So lesen heute die Leute alle alles im Flug, sie lesen alles und kennen nichts. Ich betrete ein Buch und lasse mich darauf nieder, mit Haut und Haaren, müssen Sie denken, auf ein oder zwei Seiten einer philosophischen Arbeit, als wäre ich dabei, eine Landschaft zu betreten, eine Natur, ein Staatsgebilde, ein Erddetail, wenn Sie wollen, um ganz und nicht nur mit halber Kraft und mit halbem Herzen, in dieses Erddetail einzudringen, es zu erforschen und um dann, ist es erforscht mit aller mir zur Verfügung stehenden Gründlichkeit, auf das Ganze zu schließen. Wer alles liest, hat nichts begriffen, sagte er. Es ist nicht notwendig, den ganzen Goethe zu lesen, den ganzen Kant, auch nicht notwendig, den ganzen Schopenhauer; ein paar Seiten Werther, ein paar Seiten Wahlverwandtschaften und wir wissen am Ende mehr über die beiden Bücher, als wenn wir sie von Anfang zum Ende gelesen hätten, was uns in jedem Fall um das reinste Vergnügen bringt. Aber zu dieser drastischen Selbstbeschränkung gehört so viel Mut und so viel Geisteskraft, daß sie nur sehr selten aufgebracht werden kann und daß wir selbst sie nur selten aufbringen; der lesende Mensch ist wie der fleischfressende auf die widerwärtigste Weise gefräßig und verdirbt sich wie der fleischfressende den Magen und die gesamte Gesundheit, den Kopf und die ganze geistige Existenz. Selbst eine philosophische Abhandlung verstehen wir besser, wenn wir sie nicht zur Gänze auffressen in einem Zug, sondern uns nur ein Detail herauspicken, von welchem wir dann auf das Ganze kommen, wenn wir Glück haben. Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene. Erst wenn wir das Glück haben, ein Ganzes, ein Fertiges, ja ein Vollendetes,zum Fragment zu machen, wenn wir daran gehen, es zu lesen, haben wir den Hoch- ja unter Umständen den Höchstgenuß daran. Unser Zeitalter ist als Ganzes ja schon lange Zeit nicht mehr auszuhalten, sagte er, nur da, wo wir das Fragment sehen, ist es uns erträglich. Das Ganze und das Vollkommene ist uns unerträglich, sagte er. So sind mir im Grunde auch alle diese Bilder hier im Kunsthistorischen Museum unerträglich, wenn ich ehrlich bin, sind sie mir fürchterlich. Um sie ertragen zu können, suche ich in und an jedem einzelnen einen sogenannten gravierenden Fehler , eine Vorgangsweise, die bis jetzt immer zum Ziel geführt hat, nämlich aus jedem dieser sogenannten vollendeten Kunstwerke ein Fragment zu machen, sagte er. Das Vollkommene droht uns nicht nur ununterbrochen mit unserer Vernichtung, es vernichtet uns auch, alles, das hier unter dem Kennwort Meisterwerk an den Wänden hängt, sagte er. Ich gehe davon aus, daß es das Vollkommene, das Ganze, gar nicht gibt und jedesmal, wenn ich aus einem solchen hier an der Wand hängenden sogenannten vollkommenen Kunstwerk ein Fragment gemacht habe, indem ich so lange an und in diesem Kunstwerk nach einem gravierenden Fehler, nach dem entscheidenden Punkt des Scheiterns des Künstlers, der das Kunstwerk gemacht hat, gesucht habe, bis ich ihn gefunden habe, komme ich einen Schritt weiter. Noch in jedem dieser Bilder, sogenannten Meisterwerke, habe ich einen gravierenden
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