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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen
Autoren: Roopa Farooki
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nach der zwiespältigen Erleichterung, die sich einstellt, wenn das Blut fließt. Damit sie sich im Schlaf nicht kratzt, schneidet sie auf Anweisung des Arztes die Fingernägel rigoros zurück, nicht der schmalste weiße Rand darf bleiben. Nun gräbt sie die Fingerkuppen in ihre weichen, kräftigen Handflächen. Die lassen sich nicht so leicht aufritzen, deshalb kriegen sie einiges ab. Für Lila wird ihre Haut zur täglichen Folter, sie juckt, platzt ab, bekommt grundlos Risse und verdickt sich. Aber Lila kennt kein Erbarmen, kratzt jede anstößige Hautschuppe weg, schält ihre Außenhülle jeden Morgen mithilfe minutiöser Pinzettenchirurgie und grobem Geschrubbe, bis sie glänzt, wund und neu. Dann trägt sie Make-up auf, viel zu viel, und überzieht die rohe Glätte so geschickt mit einem rosigen Schimmer, dass sie manchmal sogar Komplimente für ihren strahlenden Teint bekommt. Das pulsierende Jucken, die Absonderungen ihrer Körperoberfläche sind für sie entsetzlich, aber mit eisernem Willen und brutalen Pflegemaßnahmen gelingt es ihr, beides gerade so in den Griff zu bekommen; ja, in ihrem verkorksten Leben scheint es ihr manchmal, als wäre es das Einzige, das sie tatsächlich im Griff hat.
     

     
    Wesley wartet am Ende der Straße schon auf sie. »Ich dachte, wir gehen zusammen rein«, erklärt er ihr beim Begrüßungskuss. »W ow, du siehst toll aus«, ergänzt er bewundernd. »W ir sollten uns was Besseres aussuchen als das Central. Wie wär’s mit dem Nobu?«
    Lila geht über das Kompliment hinweg. »Ist ja süß von dir, aber ich hab keinen Bock, heute Abend mit der U-Bahn in die Stadt zu fahren.« Sie sieht immer toll aus und weiß es auch, weil es sie viel Arbeit kostet; fast ärgert sie sich selbst darüber, wie brillant und erfolgreich sie ihren Makel verbergen kann. Heute früh hat sie mit zurückgebundenem Haar am Waschbecken gestanden und unermüdlich an ihrer Augenpartie geschrubbt, wo sich die Trockenheit festgefressen hatte und die Haut so heftig spannte, dass die Falte des einen Lids nicht mehr an der richtigen Stelle saß; sie konnte drücken, wie sie wollte, der schiefe, irre Gesichtsausdruck ließ sich nicht korrigieren. Eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten lang mühte sich Lila ab, ihr Gesicht zurückzubekommen, bis es ihr endlich, wie immer, gelang.
    »W illst du damit andeuten, ich soll was für ein Taxi springen lassen?«, fragt Wesley belustigt.
    »Du weißt doch, Andeutungen sind nicht mein Ding«, antwortet Lisa so trocken, dass es fast klingt, als wolle sie flirten. Dabei ärgert sie sich nur, dass sie sich bis auf die Minute daran erinnert, wie lang die Gesichtspolitur gedauert hat; die Exaktheit der Zeitangabe hat fast schon etwas Zwanghaftes, und sie fragt sich, ob sie nicht schon Yasmins Symptome nachahmt, als würde sie ihre Schwester darum beneiden. Es zählt nicht das, was wir gemeinsam haben, sondern das, was uns unterscheidet, denkt Lila dann und schiebt ihre weiche Hand besitzergreifend in die von Wesley, wie man es als Freundin eben so macht – eine Geste, die ihrer Meinung nach Zuneigung eher imitiert als ausdrückt.
     

     
    »Hi«, begrüßt Asif die beiden, als er die Tür öffnet. Er schüttelt Wesley die Hand, »Alles klar, Wes?«, und küsst Lila auf beide Wangen. Yasmin sitzt im Wohnzimmer, einen Teller Bhajis und Pakoras auf dem Schoß; sie gibt Wesley ruhig die Hand, und als Lila sie mit überwältigendem Überschwang an sich zieht und abknutscht, hält sie stoisch still wie ein Kind, das von einer vollbusigen, aufdringlich parfümierten Tante geherzt wird. Wenn es um körperliche Nähe geht, nimmt Lila auf Yasmins Asperger-Syndrom bewusst keine Rücksicht. Wie sie ihre Schwester küsst und umarmt, ist fast schon gefühllos, ja grausam; aber womöglich verdankt es Yasmin gerade der furchteinflößend liebevollen, ungestümen Art ihrer Schwester, dass sie sich an Berührungen gewöhnt hat.
    »Gut siehst du aus«, sagt Asif höflich und etwas überflüssig. Lila sieht immer wunderschön aus, aber auf eine völlig andere Weise als damals ihre Mutter. Im Kampf gegen ihren zermürbenden Hautausschlag achtet Lila peinlich darauf, dass sie immer auf Hochglanz poliert ist, und kleidet und frisiert sich stets mit einer peniblen Sorgfalt, die gar nicht zu ihrem sonstigen achtlosen Lebensstil passt, sprich: ihrer abgebrochenen Ausbildung, ihrem fehlenden beruflichen Ehrgeiz – lieber schlittert sie von einem Gelegenheitsjob in den nächsten –, ihrer
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