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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen
Autoren: Roopa Farooki
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vor der Garageneinfahrt eines Nachbarn abstellt.
    Als Asif hastig die Haustür aufsperrt, hört er im Wohnzimmer den Fernseher; vielleicht sieht sich Yasmin doch einfach nur den Dokumentarfilm an. Seine Panik lässt nach, aber als er ins Zimmer tritt, sieht er, dass der Film zwar läuft – Yasmin spielt gerade Mozarts Klavierkonzert, hinter ihr rollen computergenerierte Farbwellen wie Wasser über den Bildschirm –, aber Yasmin selbst ist nicht da. Er stürzt nach oben und reißt ohne anzuklopfen ihre Tür auf. Yasmin liegt mit geschlossenen Augen auf dem Bett, die Arme auf der Brust überkreuzt. Und als Asif auf sie hinabblickt, ein Bild vollkommenen Friedens, kann er an nichts anderes denken als an das schrumplige, in Decken gewickelte Baby in dem Plastikbettchen. Und daran, wie sein Vater sagte: »Das ist deine kleine Schwester Yasmin«, und wie Asif die Hand ausstreckte, ihr an die Wange fasste und sagte: »Babu.«
    »Yasmin«, sagt Asif leise. »Du hast noch nichts gemacht, oder? Du hast noch nichts genommen?« Auf ihrem Nachttisch steht ein Unterteller mit Tabletten und ein volles Glas Wasser.
    Yasmin schlägt die Augen auf und schüttelt den Kopf. »Nein, der Dokumentarfilm ist noch nicht zu Ende«, sagt sie.
    »Gott sei Dank.« Vor Erleichterung kommen Asif die Tränen. Er hört Lila die Treppe heraufpoltern und ruft: »Alles in Ordnung. Es geht ihr gut.«
    Lila stürzt ins Zimmer, erfasst die Szene, die Tabletten, das Wasser, die auf dem Bett liegende Yasmin, und schreit halb panisch, halb wütend: »W as hast du dir dabei gedacht, verdammt noch mal?« Ihr Gesicht rötet sich beim Schreien, die Augenpartie schwillt an, heiße Zornestränen steigen in ihr hoch.
    Yasmin sieht Asifs tränennasses Gesicht und Lila mit den roten, in Tränen schwimmenden Augen. Da begreift sie, dass sie ihren Plan für heute Abend nicht wird ausführen können. Es überfällt sie ein unbändiger Seelenschmerz, so übermächtig, dass sie ganz darin untergeht. Sie sieht nur noch Rot mit orangefarbenen Flecken, stopft sich die Finger in die Ohren, weicht zur hinteren Bettkante zurück, in den hintersten Winkel ihres Zimmers, und beginnt zu summen. Mit einem absurden Bedauern starrt sie auf den Teller mit den Tabletten. Sie hasst es, einmal Geplantes wieder aufzugeben. Und sie hatte sich schon so auf einen wirklich guten, traumlosen Schlaf gefreut.
     

     
    »W arum?«, fragt Asif, der immer noch in Yasmins Zimmer sitzt, als sie sich wieder beruhigt hat. Die wutentbrannte Lila hat er dazu gebracht, nach unten zu gehen, um sich ebenfalls zu beruhigen. »W arum wolltest du das tun? Warum bist du überhaupt auf die Idee gekommen?«
    »Ich bin nicht glücklich«, sagt Yasmin mit schwacher Stimme. »Ich habe keine Hoffnung. Ich will einfach nur schlafen.«
    »W eißt du denn, warum du nicht glücklich bist?«, fragt Asif. Er möchte so gern ihre Hand halten, ihr übers Haar streichen, aber er wagt nicht, sie zu berühren.
    »Ich weiß nicht. Es hat so richtig angefangen, als ich begann, blind zu werden«, erklärt Yasmin.
    »W er sagt, dass du blind wirst?«, fragt Asif erstaunt.
    »Niemand, das ist eine Selbstdiagnose. Ich verliere die Sehkraft im linken Auge. Ich habe die Stargardtsche Krankheit, wie Henry. Aber vor drei Wochen hat die Erkrankung aufgehört, sich zu verschlimmern.«
    Asif blickt forschend in Yasmins hübsche haselnussbraune Augen. »W ir gehen zum Augenarzt«, sagt er. »V ielleicht lässt sich das behandeln, wie grauer Star. Du hättest es mir sagen sollen.«
    »Das war irrelevant«, sagt Yasmin.
    »Und was ist mit Lila und mir?«, fragt Asif behutsam; er bemüht sich, seine Stimme frei von jedem Vorwurf zu halten. »Sind wir auch irrelevant? Hast du dir vorgestellt, wie wir uns fühlen würden, wenn dir etwas passiert?«
    »Nein«, gibt Yasmin freimütig zu. »Auf den Gedanken bin ich nicht gekommen.« Sie fügt hinzu: »Es tut mir leid. Dass ich euch beunruhigt habe. Das wollte ich nicht.«
    »Mir tut es auch leid«, sagt Asif. »Es tut mir leid, wenn ich dir jemals das Gefühl gegeben habe, dass du nicht wichtig bist, dass es uns egal wäre, wenn dir etwas zustößt. Ich weiß, Yasmin, dass du manchmal nicht einfach bist. Du selbst weißt das auch, das ist mir klar. Aber du bist meine kleine Schwester, und ich hab dich lieb. Ich liebe dich, seit ich dich zum ersten Mal in der Klinik gesehen hab.« Und während er das sagt, merkt Asif, dass es stimmt. Es war schwierig, jemanden zu lieben, der einem das Leben
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