Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
Vom Netzwerk:
Sachen, und ich glaube, darin bin ich ganz gut gewesen.«
    Mama hatte kaltes Zitronenwasser gemacht, und sie saßen mit ihren Gläsern im Eßzimmer, und Anna plapperte immer weiter: »Wir werden wohl die Ergebnisse in ein paar Tagen haben. Viel länger kann es nicht dauern, denn das Schuljahr ist ja bald zu Ende. Wäre das nicht herrlich, wenn ich bestanden hätte - wo wir doch nicht einmal zwei Jahre in Frankreich sind?«
    Mama stimmte zu, es wäre wirklich herrlich. Da schellte es, und Max erschien ganz blaß und aufgeregt.
    »Mama«, rief er, noch bevor er ganz im Zimmer war. »Du mußt am Samstag zur Preisverleihung kommen. Und wenn du was anderes vorhast, mußt du es absagen. Es ist sehr wichtig!«
    Mama machte ein erfreutes Gesicht.
    »Hast du einen Preis in Latein bekommen?« fragte sie.
    Aber Max schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte er, und der Rest des Satzes schien ihm in der Kehle stecken zu bleiben. »Ich habe...« brachte er schließlich heraus, »ich habe den prix d’excellence gewonnen! Das bedeutet, daß ich der beste Schüler der Klasse bin.«
    Natürlich brachen alle in Lob und Freudenbezeugungen aus. Sogar Papa unterbrach seine Arbeit, um die großartige Neuigkeit zu hören, und Anna freute sich genau wie alle anderen. Aber trotzdem hätte sie gewünscht, sie wäre nicht gerade in diesem Augenblick gekommen. Sie hatte sich so angestrengt und so lange nur an das certificat d’études gedacht. Wenn sie jetzt bestand, würde es auf niemanden mehr Eindruck machen.
    Besonders, da ihr Erfolg teilweise darauf zurückzuführen war, daß sie auf einem Bein stehen konnte.
    Als die Ergebnisse verkündet wurden, war es nicht halb so aufregend, wie sie erwartet hatte. Sie hatte bestanden, aber auch Colette und der größte Teil der Klasse. Madame Socrate händigte jedem erfolgreichen Prüfling einen Umschlag aus, in dem sich die Prüfungsbescheinigung mit dem Namen der Schülerin befand. Aber als Anna ihren Umschlag öffnete, fand sie noch etwas darin. An die Bescheinigung waren zwei Zehnfrankenscheine und ein Brief des Bürgermeisters von Paris angeheftet. »Was bedeutet das?« fragte sie Madame Socrate.
    Madame Socrates verrunzeltes Gesicht erblühte in einem entzückten Lächeln.
    »Der Bürgermeister von Paris hat beschlossen, für die zwanzig besten französischen Aufsätze von Kindern, die für das certificat d’études geprüft werden. Preise auszusetzen«, erklärte sie, »es scheint, daß du einen der Preise gewonnen hast.«
    Als Anna Papa davon erzählte, freute er sich genauso wie über den prix d’exellence, den Max bekommen hatte.
    »Es ist das erste Geld, das du als Berufsschriftstellerin verdienst«, sagte er. »Es ist wirklich bemerkenswert, daß du es in einer Sprache verdient hast, die nicht deine eigene ist.«

22
    Die Sommerferien kamen, und es wurde Anna plötzlich bewußt, daß niemand etwas vom Verreisen sagte. Es war sehr heiß. Man spürte die Hitze des Pflasters durch die Schuhsohlen, die Straßen und Häuser schienen sich mit Sonnenwärme vollzusaugen, so daß sie auch bei Nacht nicht auskühlten. Die Fernands waren gleich nach Schulschluß an die See gefahren, und als der Juli zu Ende ging und der August kam, wurde Paris langsam menschenleer. Der Schreibwarenladen an der Ecke hängte als erster ein Schild heraus: »Geschlossen bis September« und mehrere andere folgten. Sogar der Eigentümer des Ladens, wo Papa die Nähmaschine gekauft hatte, hatte die Läden vorgehängt und war weggegangen.
    Man wußte nicht, was man während der langen heißen Tage tun sollte. In der Wohnung war es zum Ersticken und sogar auf dem schattigen Plätzchen, wo Anna und Max sonst spielten, war die Hitze zu groß, um etwas wirklich Interessantes anzufangen. Sie warfen einen Ball hin und her oder spielten eine Weile mit ihren Kreiseln, aber bald waren sie es müde, ließen sich auf eine Bank sinken und träumten vom Schwimmen und von kalten Getränken.
    »Wäre es nicht herrlich, wenn wir jetzt am Zürcher See säßen und einfach hineinspringen könnten?«
    Max zupfte an seinem Hemd, da, wo es ihm an der Haut klebte. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen«, sagte er, »wir können kaum die Miete bezahlen, von wegfahren ganz zu schweigen.«
    »Ich weiß«, sagte Anna. Aber es klang so niedergeschlagen, daß sie hinzufügte: »Außer jemand kauft Papas Drehbuch.«
    Papa hatte ein Filmmanuskript geschrieben, und der Einfall dazu war ihm gekommen, als er sich mit den Kindern über Napoleon
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher