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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
Autoren: Judith Kerr
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aber ein so großes Vergnügen konnte man sich nicht entgehen lassen. Anna und Max gingen also ins Kino, sahen drei Zeichentrickfilme, eine Wochenschau und einen Film über Hochseefischerei. Als sie zurückkamen, war alles ganz normal. Das Mittagessen stand auf dem Tisch und Mama und Papa standen nebeneinander am Fenster und sprachen miteinander.
    »Ihr werdet sicher froh sein zu hören, daß die lächerliche Concierge ihre Miete bekommen hat«, sagte Papa. »Ich habe von der Pariser Zeitung mein Honorar bekommen.«
    »Aber wir müssen mit euch reden«, sagte Mama.
    Sie warteten, während sie die Speisen vorlegte.
    »So kann es nicht weitergehen«, sagte Mama, »das seht ihr ja selber. Es ist für Papa nicht möglich, in diesem Land soviel zu verdienen, daß wir anständig leben können. Darum halten Papa und ich es für das einzig richtige, nach England zu gehen und zu versuchen, ob wir dort ein neues Leben beginnen können.«
    Max machte ein niedergeschlagenes Gesicht, nickte aber. Er hatte dies offensichtlich erwartet.
    »Wann würden wir denn gehen?« fragte Anna.
    »Zunächst werden nur Papa und ich fahren«, sagte Mama. »Du und Max werden bei Omama und Opapa bleiben, bis wir alles geregelt haben.«
    »Aber wenn es nun sehr lange dauert, bis ihr alles geregelt habt«, sagte Anna, »wir würden euch dann ja gar nicht sehen.«
    »Es darf eben nicht allzu lange dauern«, sagte Mama.
    »Aber Omama...« sagte Anna. »Ich weiß, sie ist sehr lieb, aber...« Sie konnte doch nicht sagen, daß Omama Papa nicht mochte, darum fragte sie statt dessen Papa: »Was meinst du denn?«
    Papas Gesicht hatte den müden Ausdruck, den Anna haßte, aber er sagte ganz fest: »Ihr werdet dort gut versorgt sein. Und ihr werdet zur Schule gehen ... eure Erziehung wird nicht unterbrochen.« Er lächelte:
    »Ihr seid beide so gute Schüler.«
    »Es ist das einzige, was uns übrig bleibt«, sagte Mama.
    Anna fühlte Trotz und Trauer in sich aufsteigen.
    »Es ist also alles schon beschlossen?« fragte sie.
    »Wollt ihr denn nicht einmal wissen, was wir darüber denken?«
    »Natürlich wollen wir das«, sagte Mama »aber wie die Dinge liegen, haben wir keine Wahl.«
    »Sag uns, was du denkst«, sagte Papa.
    Anna starrte vor sich hin auf das rote Wachstuch.
    »Ich meine nur, wir sollten zusammenbleiben«, sagte sie, »es ist mir gleich, wo oder wie. Es ist mir gleich, wenn die Umstände schwierig sind, wenn man zum Beispiel kein Geld hat, und das mit der blöden Concierge heute morgen war mir auch ganz gleichgültig - wenn wir nur alle vier zusammen sind.«
    »Aber Anna«, sagte Mama, »viele Kinder trennen sich für eine Zeit von ihren Eltern. Viele englische Kinder sind in Internaten.«
    »Ich weiß«, sagte Anna, »aber das ist etwas anderes, weil wir keine Heimat haben. Wenn man kein Zuhause hat, dann muß man bei seinen Leuten bleiben.« Sie blickte in die verzweifelten Gesichter ihrer Eltern und es brach aus ihr heraus: »Ich weiß!
    Ich weiß, daß wir keine Wahl haben, und daß ich alles nur noch schwerer mache. Aber bis jetzt hat es mir nie etwas ausgemacht, ein Flüchtling zu sein. Es hat mir sogar gefallen. Ich finde, die beiden letzten Jahre, wo wir Flüchtlinge waren, waren viel schöner als die Zeit in Deutschland. Aber wenn ihr uns jetzt wegschickt, habe ich solche Angst ... ich habe so schreckliche Angst...«
    »Wovor denn?« fragte Papa.
    »Daß ich mir wirklich wie ein Flüchtling vorkomme«, sagte Anna und brach in Tränen aus.

23
    Hinterher schämte sich Anna sehr wegen ihres Ausbruchs. Sie hatte es doch die ganze Zeit gewußt, daß Mama und Papa nichts anderes übrig bleiben würde, als sie und Max wegzuschicken. Sie hatte nur erreicht, daß alle sich wegen etwas, das sowieso getan werden mußte, noch elender fühlten. Warum hatte sie nicht den Mund halten können? Als sie im Bett lag, grämte sie sich deswegen, und sobald sie am nächsten Morgen erwachte, wußte sie, daß sie etwas unternehmen mußte. Sie hatte noch etwas von dem Geld für den Aufsatz - sie würde gehen und für alle zum Frühstück frische Croissants kaufen.
    Zum ersten Mal seit Wochen wehte eine leichte Brise, und als sie mit der Tüte voll heißer Croissants vom Bäcker zurückkam, war ihr plötzlich viel wohler zumute. Es würde schon alles in Ordnung kommen - alles würde wieder gut werden.
    Die Concierge sprach mit einem Mann, der einen starken deutschen Akzent hatte, und als Anna an den beiden vorbeiging, hörte sie, wie er nach Papa
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