Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Als die Uhr dreizehn schlug

Titel: Als die Uhr dreizehn schlug
Autoren: Philippa Pearce
Vom Netzwerk:
am nächsten Morgen war er immer voll neu gewonnener Hoffnung und Zuversicht erwacht. Doch dieser Morgen war nur die Fortsetzung der Nacht und des vorigen Tages: Noch während wieder Leben in seine Gedanken kam, kehrten auch schon das Entsetzen und der Schmerz von gestern zurück.
    Heute war Samstag; er hatte seine Chance verpasst; er hatte den Garten verloren. Heute würde er nach Hause fahren.
    Tränen liefen ihm über das Gesicht und er konnte sie nicht aufhalten. Tante Gwen kam in aller Frühe herein und legte den Arm um ihn: »Aber Tom – sag mir doch, was los ist mit dir!«
    Nun endlich wollte er alles erzählen – wenn er den Schmerz mit ihr teilte, konnte er ihn vielleicht lindern. Doch es war zu spät. Die Geschichte war zu lang und klang so phantastisch, dass sie keiner glauben würde. Tom starrte sie schweigend an und weinte.
    Er frühstückte im Bett, wie ein Schwerkranker. Die Kitsons frühstückten für sich in der Küche und sprachen über ihn.
    »In diesem Zustand kann er die lange Zugreise wirklich nicht alleine machen«, sagte Tante Gwen. »Könnten wir ihn nicht mit dem Wagen nach Hause fahren?«
    Alan Kitson war durchaus bereit dazu. Aber er arbeitete samstagmorgens, sodass sie erst am Nachmittag aufbrechen konnten. Sie schickten den Longs ein Telegramm.
    Tom stand kurz nach dem Frühstück auf und zog sich an, denn im Bett zu liegen und zu grübeln war schlimmer, als auf zu sein. Gerade als der Onkel zur Arbeit gehen wollte, trat er hinaus in den schmalen Korridor. Onkel und Tante erklärten ihm, was sie geplant hatten, und Tom nickte.
    Onkel Alan verabschiedete sich und Tante Gwen schloss die Wohnungstür hinter ihm. Fast im gleichen Augenblick jedoch hörten sie ihn draußen mit jemandem sprechen, und ein paar Minuten später kam er mit ärgerlicher Miene wieder herein. »Es war diese alte Frau«, sagte er. »Warum kann sie einen nicht in Ruhe lassen?«
    »Mrs Bartholomew? Was will sie denn jetzt wieder?«
    »Eine Entschuldigung für den Lärm gestern Nacht. Natürlich hab ich mich gestern schon entschuldigt und eben jetzt noch einmal; doch sie besteht darauf, dass der Junge zu ihr kommt.«
    »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, rief Tante Gwen. »Das kann sie doch unmöglich von ihm verlangen! Und das werd ich ihr auch sagen!« In hellem Zorn gegen Mrs Bartholomew machte Toms Tante einen Schritt auf die Tür zu. Doch ihr Mann hielt sie auf.
    »Langsam, Gwen! Sie ist die Vermieterin. Wenn wir sie kränken, könnte sie sehr unangenehm werden.«
    »Das ist mir egal!«
    »Ich versuch sie zu beruhigen«, sagte Onkel Alan.
    »Nein«, sagte Tom plötzlich mit dumpfer, aber fester Stimme. »Ich gehe hoch zu ihr. Das sollte ich schon tun. Es macht mir nichts aus.«
    »Das lass ich nicht zu, Tom«, rief Tante Gwen.
    »Ich gehe«, wiederholte er. Es war ein Entschluss ähnlich wie der, aufzustehen anstatt weinend im Bett zu bleiben. Man musste die Dinge einfach anpacken, auch unangenehme; es war erleichternd, etwas zu unternehmen.
    Etwas war in Toms Gebaren, das der Tante und dem Onkel Achtung vor seiner Entscheidung einflößte.
    Ein wenig später stieg Tom hoch zur Wohnung von Mrs Bartholomew und klingelte an der Tür. Mrs Bartholomew öffnete und sie standen sich zum ersten Mal gegenüber. Sie entsprach ganz der Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte – sie war alt und klein und runzlig und hatte weißes Haar. Nur auf eines war er nicht gefasst gewesen: auf ihre Augen. Sie waren schwarz, und ihre Schwärze beunruhigte ihn – und auch die Art, wie sie ihn ansah.
    »Ja?«, sagte sie.
    »Ich komme, um zu sagen, dass es mir Leid tut.«
    Sie unterbrach ihn: »Dein Name ist Tom, nicht wahr? Dein Onkel hat ihn erwähnt. Und dein Nachname?«
    »Long«, sagte Tom. »Ich komme, um mich zu entschuldigen –«
    »Tom Long …« Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Arm mit den Fingerspitzen und drückte dagegen, als ob sie den Stoff seines Hemdes und die Haut unter dem Stoff und den Knochen unter der Haut spüren wollte. »Du bist echt: ein Junge aus Fleisch und Blut. Der Neffe der Kitsons … Und mitten in der Nacht –«
    Tom, der sich von einer verschrobenen alten Frau keine Angst einflößen lassen wollte, sagte: »Ich hab doch gesagt, dass es mir Leid tut.«
    »Du hast gerufen«, fuhr sie unbeirrt fort. »Du hast einen Namen gerufen.« Sie senkte die Stimme. Sie klang freundlich, glücklich, liebevoll – Tom wusste nicht, wie ihm geschah –, so hatte er sich Mrs Bartholomew nie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher